Zürich, 14.XI.1898.
Lieber Schatz,
Du findest doch immer eine originelle Art und Weise einen zu
überraschen. Daß mir Dein Doppelbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel an Wedekind, 13.11.1898. getheilte Empfindungen verursachte,
kannst Du mir nicht verdenken. Ich wollte ich hätte sie hier, die klassische
Vorkämpferin unserer IdealeGemeint ist offenbar die unten erwähnte gemeinsame Freundin ‚Irene‘ (Nachname nicht ermittelt)., und Dich auch. Ueber meinen Gemüthszustand e. ct.
e. ct. wirst Du von Frida erfahren haben. Ich gäbe viel darum, wenn ich hier wenigstensallein und einsam wäre, statt dessen habe ich das
Vergnügen, Langen die Zeit zu vertreibenZusammen mit Wedekind war in der Simplicissimus-Affäre auch gegen Albert Langen, den Herausgeber der Zeitschrift, sowie Thomas Theodor Heine, der die Zeichnungen zu Wedekinds inkriminierten Gedicht „Im heiligen Land“ geliefert hatte, Haftbefehl erlassen worden. Während Heine sich zeitnah den Behörden stellte, setzte sich Langen ebenso wie Wedekind nach Zürich ab. Zu den gemeinsamen Wochen in der Schweiz vgl. neben Wedekinds folgendem Brief an Weinhöppel vom 29.11.1898 auch seine Briefe an Beate Heine vom 12.11.1898 und vom 15.12.1898. und mir einen Schwarm von
Schmeißfliegen (Preßbengelsabwertende Bezeichnung für Journalisten. Als Preßbengel wird in der Druckersprache der Hebel bezeichnet, „mit dessen Hilfe die Schrauben der Buchdruckerpresse angezogen werden“ [Duden]. unterster Sorte) vom Leib zu halten.
Ich danke Dir sehr, daß Du mich über Stollberg orientirt
hast. Was er Dir sagte ist einfach gelogen und gilt ihm zum Vorwand, den Posten
nicht neu zu besetzenGemeint ist Wedekinds Position als Theatersekretär am Münchner Schauspielhaus unter Georg Stollberg, die er im August 1898 angetreten hatte. Nachfolger wurde zunächst Wedekinds Bruder Donald, dem Stollberg jedoch bereits nach kurzer Zeit kündigte. Ursache für das Zerwürfnis war offenbar eine Beleidigung Donalds gegen Stollbergs Frau Grete [vgl. hierzu Wedekinds Brief an Georg Stollberg vom 21.11.1898; vgl. auch Buchmayr 2011, S. 202, wo es heißt Wedekind habe Grete Stollberg „sexuell belästigt“]., sondern das Geld selber einzustecken. Seine Freundschaft
kann mir gestohlen werden. Sehr besorgt bin ich bei alledem um Donald. Wenn Du
mit ihm zusammenkommst, dann rüttle ihn bitte ein wenig auf, so in der Art, wie
Du es seinerzeit mit mir gethan. Enervire ihn ein wenig zur
Arbeit. Ich habe kein Talent zum Moralpredigen (womit ich nicht sagen will, daß
du es in besonderem Maße hast) und dann fürchte ich, daß er mir auf die erste
Ermahnung hin Krach macht. Ich möchte ihn auch nicht kränken. Ich sehe aber
ein, daß ich jetzt nichts für ihn thun kann. Und dann frag die BeidenGemeint sind Frida Strindberg und Donald Wedekind, die, vermutlich in den Tagen nach Wedekinds Flucht, eine Beziehung eingegangen waren [vgl. Buchmayr 2011, S. 202f.] bitte
gelegentlich, ob sie nun endlich einmal meine Sachen expedirt
haben. Es kostet sie ja nicht einen Pfennig. Ich bin heute seit 14 Tagen hier
und gehe täglich in den gleichen Kleidern, die mir nachgerade in Fetzen vom
Leibe hängen. Zehn Tage haben sie gebraucht, um mir zwei Manuscriptenicht ermittelt. zu
schicken, um die ich sie bei meiner Abreise dringend bat.
Aber nun genug der Aufträge. Es handelt sich mir wirklich um
ernstere Dinge. Momentweise erscheine ich mir von allen Seiten verraten und
verkauft. Langen ist von überströmender Katzenfreundlichkeit. Dabei höre ich,
daß er von München aus discreditirende Nachrichtennicht ermittelt. über mich in
die Presse schickt. Ich schreibe Dir das nur, um Dir meine hochgradig nervöse
Stimmung zu erklären. Glaub bitte nicht, daß ich Dich einen Augenblick
vergesse. Ich denke auch manchmal daran, daß Du auch nicht im Golde schwimmen
wirst. Für mich giebt es keinen Aufenthalt mehr. Ich habe durch den Schlag so
unendlich viel verloren, daß es mir gar nicht möglich ist zurückzublicken. Ich
muß vorwärts, vorwärts, sonst werde ich verrückt.
Grüße Irene zehntausendmal, wenn Du sie wiedertriffst. Ich
werde ihr auch jedenfalls schreiben. Wenn ich in nächster Zeit nach Luzern
komme, was nicht ausgeschlossen ist, werde ich Miezerl besuchen. In einiger
Zeit erscheint ,,Gastspielursprünglicher Titel von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“. Das bereits im Herbst 1897 fertigestellte Stück erschien erst im März 1899 bei Albert Langen (München) [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 57, 10.3.1899, S. 1886].“ im Druck. Du siehst, es ist mir nicht möglich, mit
meinen Gedanken einen Moment bei den angenehmeren Seiten des Lebens zu bleiben.
Wenn Du etwas Wesentliches über mich in München hörst, dann sei bitte so gut es
mir mitzutheilen. Du erweist mir dadurch einen sehr großen Dienst. Ich danke
Dir auch, daß Du Fridas Reiseprojectennicht ermittelt. Ende Mai 1899 trafen Strindberg und Donald Wedekind zu einem Besuch bei Wedekind in Paris ein [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 22.5.1899]. entgegentrittst. Mir hat sie noch nichts
davon verlauten lassen. Hoffentlich überrascht sie mich nicht eines Tages in
Persona. Ich gestehe zu meiner Schande, daß ich sie auch Donalds wegen lieber
in München weiß, abgesehen von allem anderen. Wenn doch Irene auf den Gedanken
käme!
Lieber Schatz, verzeih mir meine anscheinende Kälte, aber
was soll ich anders empfinden mit der Sklavenkette ,,Simplicissimus“Durch die Simplicissimus-Affäre und den Verlust seiner Stellung am Münchner Schauspielhaus war Wedekind zum Lebensunterhalt wieder allein auf die Mitarbeit an Langens Zeitschrift „Simplicissimus“ angewiesen. Bis Mitte April 1899 setzte er unter verschiedenen Pseudonymen (Hieronymos, Hieronymo Jobsio, Kaspar Hauser, Benjamin u. a.) die im zweiten Jahrgang der Zeitschrift (1897/98) begonnene Reihe mit ‚politischen‘ Gedichten fort. In Wedekinds Korrespondenz ist von einer diesbezüglichen vertraglichen Vereinbarung mit Langen über 300 Mark/400 Francs monatlich die Rede [vgl. Wedekinds Briefe an Weinhöppel vom 29.11.1898 und an Beate Heine vom 15.12.1898]. Im Brief an Beate Heine vom 12.11.1898 schreibt Wedekind, er habe „alle acht Tage ein Gedicht zu machen“. am Fuß.
Ich war gerade im Begriff die Fessel zu durchbrechenZu dieser Hoffnung sah sich Wedekind nicht nur durch seine Sekretärsstelle sowie die Übernahme kleinerer Rollen am Münchner Schauspielhaus (die ihm ein zusätzliches Einkommen einbrachte) berechtigt, sondern auch durch die Annahme seines Dramas „Der Erdgeist“ durch Georg Stollberg. Allerdings hatte die Premiere am Schauspielhaus (29.12.1898) mit Wedekind in der Rolle des Dr. Schön „in einem vom Publkum inszenierten Theaterskandal“ [KSA 3/II, S. 1203] geendet. Unmittelbar danach hatte Wedekind München fluchtartig verlassen., da falle ich von neuem in
das Verließ zurück! Ich wüßte wirklich nicht, wo ich jetzt eine stimmungsvolle
Minute hernehmen wollte. Dir geht es ja freilich nicht besser, aber Du hast ein
glücklicheres Gemüth in solchen Dingen.
Mit tausend Grüßen und herzlichen Küssen bin ich Dein
getreuer
Frank.
Meine aufrichtigsten besten Wünsche für Dein Wohlergehen.
Wenn dieser Brief einmal späteren Forschern in die Hände
fällt, wird er für die Beurtheilung unseres Verhältnisses entscheidend sein.
Viele werden sagen: Ich hab’s mir doch immer gedacht!