München, 8.III.1905.
Lieber alter Freund Richard!
Du hast mir die Freude nicht gegönnt, Dich hier in MünchenWann genau Weinhöppel im Laufe des Winters 1904/05 in München war, ist nicht ermittelt. Anzunehmen ist jedoch, dass Wedekind sich auf einen Aufenthalt im Januar/Februar 1905 bezieht, bevor er selbst ausweislich seines Tagebuchs vom 1. bis 5.3.1905 nach Berlin reiste. Der vorliegende Brief erreichte Weinhöppel in Rom, von wo er Wedekind am 15.3.1905 anwortete. zu sehen. Ich war zwei mal bei Dir im Hotel. Das zweite Mal hinterließ ich eine Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Weinhöppel, Januar/Februar 1905., aber auch das war umsonst. Nun weiß ich ja allerdings ganz genau, welche Mächte zwischen uns stehenSpannungen zwischen Weinhöppel und Wedekind bestanden offenbar seit längerer Zeit und reichten bis in die gemeinsame Zeit bei den Elf Scharfrichtern (1901 bis 1903) zurück. Da in Wedekinds Tagebuch, das nach der Jahrundertwende erst mit Beginn des Jahres 1904 neu einsetzt, Weinhöppels Name das erstmals im Mai 1905 erwähnt wird [vgl. Tb 23./24.5.1905], ist anzunehmen, dass der persönliche Kontakt schon vor dem 1.1.1904 unterbrochen war. Vgl. Weinhöppels Antwortbrief vom 15.3.1905, in dem er die Ursachen der Entfremdung zu Wedekind, darunter dessen Indiskretion, aus seiner Sicht schildert; auf die beginnende Krise in der Beziehung zu Weinhöppel verweist bereits Wedekinds Brief an Max Halbe vom 30.5.1903., und füge mich in das Unvermeidliche, und zwar in der festen Zuversicht, daß wir uns, sobald diese leidige Constellation sich geändert hat, unwillkürlich wieder einander nähern werden und dann in derselben Weise mit einander verkehren werden und uns gegenseitig genießen werden, wie das früher der Fall war. Der Platz, den Du in meinem Leben ausgefüllt hast, steht leer und wird kaum jemals von einem anderen ausgefüllt werden, und wenn ich nicht ein elender Stümper auf dem Gebiete der Menschenkenntnis bin, muß ich annehmen, daß es sich bei Dir ebenso verhält. Nun habe ich eine Bitte an Dich: Du hattest seinerzeit ein kleines BüchleinGemeint ist hier mit großer Wahrscheinlichkeit die erste Niederschrift von Wedekinds Gedichtsammlung „Bucolica“, die zwischen Mai und Juni/Juli 1881 in Lenzburg entstanden war und von er in der Vorbemerkung zum Erstdruck des Fragments „Felix und Galathea“ (1908) schreibt: „Das Heft, in dem das ganze Schäfergedicht enthalten war, hat in späteren Zeiten einmal ein Freund in Verwahrung genommen und verloren.“ [KSA 1/I, S. 566; zur Entstehung und Überlieferung vgl. ausführlich KSA 1/II, S. 1538-1542 und 1547]. Eine in der handschriftlichen Fassung der Vorbemerkung überlieferte alternative Formulierung – „Das Heft [...] hat in gefahrvolleren Zeiten einmal ein Freund in Verwahrung genommen und als er selbst in Gefahr schwebte verloren.“ [KSA 1/II, S. 1545] – lässt sich so interpretieren, dass die „Bucolica“ zu den Manuskripten gehörten, die Wedekind bei seiner Flucht aus München im November 1898 in Weinhöppels Obhut ließ [vgl. Weinhöppels Brief an Wedekind vom 20.7.1899]. Weinhöppel selbst vermutete in seiner Antwort an Wedekind vom 15.3.1905, das „blaue Heft“ mit den „Bucolica“ könne sich noch im Besitz von Wedekinds Freundin Frida Strindberg befinden. von mir, betitelt Bucolica. Ich lasse das Büchlein mit Freuden in Deinen Händen, wenn Du es noch hast. Ich hätte aber gerne eine getreue Abschrift davon, | da ich einige Verse daraus nothwendig brauche. Willst Du mir diese Abschrift herstellen lassen? Oder willst Du mir das Manuscript herschicken, damit ich es abschreiben lassen kann? – Ich bitte Dich, mir diese Frage zu beantworten, denn es handelt sich schließlich doch um ein Manuscript, welches, sei es auch noch so unreif und schweinisch, für mich eine gewisse Bedeutung hat, die es für niemand anders haben kann. Vor einigen Tagen war ich bei BierbaumWedekind hatte Otto Julius Bierbaum und dessen Frau Gemma – mit großer Wahrscheinlichkeit – am Freitag, den 24.2.1905 in München zum Mittagessen besucht [vgl. Bierbaums Brief an Wedekind vom 23.2.1905; Wedekinds Tagebuch enthält für den 24.2.1905 keinen Eintrag]. , der mir mit großer Wärme von Deiner Arbeit vorschwärmte. In der Zuversicht, daß gemeinsames künstlerisches Schaffen doch ein stärkeres Bindemittel ist, als es Pfirsichbowle, Schweinssauerbraten und Kegelbahn jemals werden können, schöpfte ich gerade bei Bierbaum neue Hoffnung, daß die Wiederkehr der alten Zeit nicht mehr ferne liegt.
Mit herzlichsten Grüßen Dein alter
Frank.