Sehr geehrter Herr
Doktor!
Gestern AbendWedekinds Tagebuch hat am 23.12.1910 keinen Eintrag. Der Autor hatte dem vorliegenden Brief zufolge aber Besuch von dem vor allem als Lyriker hervorgetretenen Schriftsteller (und Schauspieler) Eugen Albu, der vom Neuen Verein zunächst eine Zusage zu einem seinem Werk gewidmeten Abend erhalten hatte, die dann offenbar durch einen Brief Kutschers an Albu zurückgenommen wurde. Erst 1913 „brachte der Neue Verein“ im Schauspielhaus „Klein-Eisen. Berliner Mittelstands-Drama aus den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts“ von Eugen Albu „zur Aufführung“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 116, Nr. 3, 18.1.1913, S. 47]. war Herr Albu bei mir wegen einer
Angelegenheit, die soweit ich sie beurtheilen kann, sich doch vielleicht von
zwei verschiedenen Seiten ansehen läßt. Sie haben sicherlich recht darin, daß
die intimen AbendeFormat im Veranstaltungsangebot des Neues Vereins: „Intime Abende wurden veranstaltet und haben sich ausgebildet zu einer Institution, zu welcher ein kaum zu bewältigendes Angebot von Autoren erfolgt. Die Abende stehen im Dienste junger oder weniger bekannter Schriftsteller, Rezitatoren, Musiker, denen der Verein zum Vortrage Gelegenheit und Raum gibt. Das Niveau dieser Abende erwirbt die größere Aufmerksamkeit der Presse und erzeugt einen Andrang von Zuhörern, der fast die Intimität der Veranstaltung bedroht.“ [Artur Kutscher: Der „Neue Verein“ und das Münchener Theaterleben. In: Bühne und Welt, Jg. 14 (1911/12), 2. Halbjahr, Heft 19, S. 286-291, hier S. 289] des N.V.Der Ende 1903 in Nachfolge des Akademisch-Dramatischen Vereins gegründete Neue Verein e.V. (Vereinslokal: Türkenstraße 28, Geschäftsstelle: Buchhandlung Heinrich Jaffe, 1. Vorsitzender: Dr. Wilhelm Rosenthal [vgl. Adreßbuch für München und Umgebung 1910, Teil III, S. 185]), veranstaltete vor allem geschlossene Vorstellungen neuer Dramen. „Die von der Polizei verbotenen Stücke Wedekinds wurden vom ‚Neuen Verein‘ vor geladenem Publikum gespielt“ [Mühsam 2003, S. 137]. Zum Vorstand des Neuen Vereins gehörte neben dem Rechtsanwalt Wilhelm Rosenthal der Schriftsteller Josef Ruederer (er war Gründungsvorsitzender gewesen) und der Regisseur Otto Falckenberg [vgl. Pargner 2005, S. 30], außerdem Wilhelm Weigand, „der literarische Leiter [...]. Der Vorstandschaft trat an die Seite ein aus etwa zehn Köpfen bestehender künstlerischer Beirat von Vertretern der Literatur, der bildenden Künste und der Musik.“ [Kutscher 1912, S. 288] Kutscher dürfte diesem Beirat angehört haben. nicht für Experimente daDer Neue Verein war „ein Experimentier-Institut für moderne, gefährliche, dem Zensor unsympathische Aufführungen“ [Mühsam 2003, S. 137] ‒ so die Sicht der durch Neubesetzung seit 1913 wirkenden innovationsoffenen Fraktion des Beirats, zu der Kutscher eher nicht gehörte: „Dr. Kutscher war gewiß kein übertrieben revolutionärer Mann“ [Mühsam 2003, S. 138]. sind. Es fragt sich nur ob Herr Albu
durch ein Zurücknehmen der ihm gegebenen Zusage nicht mehr blos gestellt wird,
als die Sache werth ist. Ich glaube, wenn sich Herr Albu an den Verein als
solchen wendete, müßte der Verein sich auch diese Frage in
Berücksichtigung ziehen. Wenn Sie, geehrter Herr Doctor, sich durch einen
Albu-|Abend zu sehr zu exponieren glauben, was ich nicht einsehen kann, so wäre
es für Sie ja vielleicht ein Leichtes, die Verantwortung auf Karl Henckels und
meine SchulternDie Bemerkung legt nahe, dass auch Karl Henckell und Wedekind dem Beirat des Neuen Vereins angehört haben. abzuladen. Auf jeden Fall glaube ich Sie Ihnen auch in Ihrem eigenen
Interesse den Vorschlag machen zu müssen, in dieser Angelegenheit nicht weiter
entscheiden zu wollen, bevor wir nicht Gelegenheit gefunden uns mündlich
darüber auszusprechenDie Aussprache fand wohl erst am 28.3.1911 stand (in der Torggelstube): „T.St. mit Dr. Kutscher und Beyrer“ [Tb]. Unklar ist, ob die weitere Person Elisabeth Beyrer-Witting war oder ihr Gatte (Eduard Beyrer).. Ich nehme an, und auch Herr Albu hat den Eindruck, daß
Ihr Brief einer etwas nervösen Stimmung entsprang an der vielleicht die
TreibereienAntreiben, Hetzen. Wedekind ging wohl davon aus, dass die Bildhauerin Elisabeth Beyrer (geb. Witting) ihren vermutlich im Neuen Verein aktiven Gatten, den katholischen Münchner Bildhauer Eduard Beyrer, gegen Eugen Albu einzunehmen suchte. von der Beirer schuldig waren. Aber in dieser Angelegenheit wäre es
meines Erachtens wie gesagt ein leichtes für Sie, die Verantwortung abzulehnen
und dadurch Herrn Albu eine völlig unverdiente Beschämung zu ersparen. |
Ihnen, Ihrer verehrten Frau Gemahlin und den Ihrigen senden
meine Frau und ich die herzlichsten Wünsche für recht frohe Feiertage.
Mit herzlichemn Gruß auf baldiges Wiedersehn
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
24.12.10.
[Kuvert:]
Herrn
Dr. Arthur Kutscher
München-Bogenhausen
Mauerkirch-StrasseKutscher wohnte in München in der Mauerkircherstraße. 6. |
Bitte an die Adresse in HannoverDie Witwe Dora Kutscher (geb. Zieseniß) wohnte in Hannover (siehe den Postzustellvermerk): Auf dem Emmerberge 7 [Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1910, Teil II, S. 71]. Das war die Mutter Artur Kutschers, der zu Weihnachten zu ihr gefahren ist. nachzusenden.