Sehr geehrter Herr Meyer!
Inliegend ein kleiner Beitrag für Buch IV und V
MaiandrosWedekinds dem vorliegenden Brief beigelegtes Gedicht wurde unter dem Titel „GRAND ECART (Tanzlied)“ am 1.5.1913 in der von Heinrich Lautensack, Alfred Richard Meyer und Anselm Ruest 1912/13 herausgegebenen Zeitschrift „Die Bücherei Maiandros“ (sie erschien im Verlag von Paul Knorr, Berlin-Wilmersdorf) im Doppelheft „Das IV. und V. Buch“ [S. 63-64] veröffentlicht; das war zugleich eine von Alfred Richard Meyer herausgegebene Lyrikanthologie, in der das Gedicht publiziert ist [vgl. Der Mistral. Eine lyrische Anthologie. Hg. von Alfred Richard Meyer. Berlin-Wilmersdorf: Paul Knorr 1913 (Die Bücherei Maiandros, IV-V. Buch), S. 63-64].. Natürlich würde ich mich auch über den Abdruck älterer Gedichte
freuen. Wollen Sie Frau Resi LangerResi Langer, die sich gerade als Rezitatorin des literarischen Expressionismus einen Namen machte, war von 1908 bis 1915 mit Alfred Richard Meyer verheiratet, in dessen Verlag sie mitgearbeitet hat. bitte den Ausdruck meines aufrichtigen
DankesWedekind dankte Resi Langer für den Vortrag seiner Lyrik im Rahmen ihres Vortragsabends „Rokoko“ (siehe die folgende Erläuterung). Er dürfte ihr außerdem auch dankbar gewesen sein für ihre Rezitation seines Gedichtes „Felix und Galathea“ auf einem Leseabend am 7.10.1912 in Berlin, der in der Presse angekündigt war: „Der zweite Autorenabend des Verlages A. R. Meyer [...] findet [...] in der Buchhandlung Reuß und Pollack [...] statt. Else Hadwinger, Anselm Ruest, Heinrich Lautensack, Alfred Richard Meyer lesen aus ungedruckten Werken [...], Resi Langer trägt das Schäferspiel ‚Felix und Galathea‘ von Frank Wedekind vor.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 41, Nr. 501, 1.10.1912, Abend-Ausgabe, S. (3)] nebst meinem herzlichen Glückwunsche zu dem großen Erfolg des RococoabendsResi Langer hat am 19.11.1912 um 20.15 Uhr im Kleinen Saal des Architektenhauses in Berlin (Wilhelmstraße 92/93) in historischer Kostümierung einen Vortragsabend „ROKOKO“ veranstaltet; im ersten Teil standen einer ganzseitigen Anzeige zufolge „Dichtungen von Günther / Hagedorn / Weiße / Uz / Hölty / Conz / Zachariae / Voss / Gotter / Bellmann / Goethe“ auf dem Programm, im zweiten Teil „Dichtungen von Verlaine / Giraud-Hartleben / Holz / Wedekind / A. R. Meyer u.a.“ [Das Beiblatt der Bücherei Maiandros, 1. Buch, 1.10.1912, S. (15)]. Die Rezitation wurde im expressionistischen Umfeld begeistert besprochen: Der Zeit „eines eigentlich recht irdischen und lustbedachten Geistes, lieh Resi Langer mit ihrem [...] Rokokoprogramm blühendes Leben. […] Ich hörte sie dann doch lieber (dies der zweite Teil) die jüngeren Rokokoverse der Modernen rezitieren“ [Anselm Ruest: Resi Langer, Vortragsabend „Rokoko“. In: Das Beiblatt der Bücherei Maiandros, 2. Buch, 1.12.1912, S. 17]. „Das Podium betrat eine Dame im Kostüm des ancien régime (gelb und violett) [...], ging auf und ab – und sprach. Hingegeben dem Gesprochenen, wenn sie stand, lässig erzählend und fast spöttisch spielend, im Sitzen [...]. Was in den Gedichten des ersten Teils sich selbst darstellt, war denen des zweiten Teils Stoff.“ [Rudolf Leonhard: Ueber einen Vortragsabend. In: Die Aktion, Jg. 2, Nr. 52, 25.12.1912, Sp. 1649] Unter dem Titel „Rokoko. Ein lyrisches Flugblatt anonymer Autoren von Resi Langer“ ist 1913 im Verlag A. R. Meyer in Berlin-Wilmersdorf in der Reihe „Die lyrischen Flugblätter“ ein 8 Blatt umfassendes Heft erschienen, das wohl Texte aus dem „Rokoko“-Programm aufgreift.
übermitteln.
Mit schönstem Gruß
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
Die Verse passen natürlich zu einer Melodie. Es
würde aber wohl zu viel Raum wegnehmen, die NotenNoten zu „Grand Ecart“ sind nicht überliefert. mitzudrucken.
München 28.I.13. |
[Beilage:]
1.
Grand
Ecart(frz.) Spagat. Wedekinds Gedicht „Grand Ecart“ [KSA 1/I, S. 689-690; vgl. KSA 1/II, S. 1633-1635] ist 1913 im Erstdruck in „Die Bücherei Maiandros“ (s.o.) ohne den in der Handschrift formulierten Titelzusatz „(Spagat)“ präsentiert; die Unterstreichung ist durch Sperrung ersetzt, die Kreuzchen in der Handschrift („x“) sind im Druck als Sternchen („*“) umgesetzt; die Sofortkorrekturen sind ausgeführt.. (Spak/g/at.)
(Tanzlied)
Sind die Muskeln straff gespannt,
Schuh und Strümpfe gut imstand,
Dann beginn
Mitten drin,
Von vorn und hinten Königin!
Tanz, wie nie kein Weib getanzt,
Jeden Bocksprung, den Du kannst!
Linkes Bein,
Flinkes Bein ‒
Das rechte muß noch flinker sein.
Wenn die Pauke kracht,
Grand Ecart gemacht!
Mit den Hüften
Hoch in Lüften
Schafft sich kaum
der Purzelbaum.
x x x |
2.
Als von Haus du Abschied nahmst
Und dann zum Theater kamst,
Träumtest du dir je dabei,
Daß Spak/g/at die Richtschnur sei?
Nein, du träumtest sicherlich
Hochdramatsches Fach für dich:
KlärchenHauptfigur in Johann Wolfgang Goethes Trauerspiel „Egmont“ (1788)., SapphoTitelfigur in Franz Grillparzers Trauerspiel „Sappho“ (1819)., RhodopeHauptfigur in Friedrich Hebbels Tragödie „Gyges und sein Ring“ (1856).,
Schlimmsten Falls noch SalomeTitelfigur in Oscar Wildes Tragödie „Salome“ (1893)..
Erndtet nun das tolle Ding
Nacht für Nacht mit high kicking(engl.) hochwerfen (etwa der Beine wie beim Cancan).
Ovationen,
Die sich lohnen,
Ißt sich täglich satt
Und dreht sich kollert hurtig wie ein Wagenrad
Mit/Nach/
dem höchsten Zweck
Durch den tiefsten Dreck,
Lacht immer quietschvergnügt,
Wenn hoch das Röckchen fliegt ‒ |
3.
Hopp, hopp, spring deinen größten Freudensprung!
Der war noch zu klein,
Größer muß er sein,
Bist doch zur Belustigung
Nur einmal jung.
x x x
Wir, die unser Glück versuchen
Ohne Ring und Standesamt,
Pfeifen auf die gottverfluchten
Bonzen„Name der buddhistischen Priester in Japan, China und Hinterindien“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 3. Leipzig 1905, S. 210]., die den Tanz verdammt.
Spreizend unser Goldgefieder,
Singend unsere lauter
Luderlieder„Lieder erotischen Inhalts“ [KSA 1/II, S. 1635].
Gleiten wir zur Erde nieder
Zum Ecart entflammt.
Frank Wedekind.