Darmstadt d. 11 August
Lieber Bebi!!
Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 3.8.1889. habe ich erhalten. Du fragst
mich was die Vorzüge in Darmstadt sind. Ich habe hier nur einen Vorzug. Es ist ein Mädchen für
welches ich wirklich schwärme. Es ist unsere Mademoiselle. Ich habe sie dir in
meinem ersten Briefvgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 30.6.1889. Das war nicht der erste Brief, den die jüngste Schwester dem Bruder aus dem Mädchenpensionat in Darmstadt geschrieben hat. beschrieben. Leider geht sie schon im September nach
Lausanne in ihre Heimat zurück die Glückliche. Die Ferien sind jetzt schon vorbei und nun muß bis zum Herbst wieder
ernsthaft geschafft werden. Was ist dir nur eingefallen auf einmal nach München zu reisen. Welches ist
eigentlich der Grund davonWedekind konnte den für seinen Aufenthalt in Berlin verlangten Staatsangehörigkeitsausweis nicht vorweisen, eine Bestätigung über seine amerikanische Staatsangehörigkeit genügte den preußischen Behörden nicht, er wurde aus Berlin ausgewiesen und verließ die Stadt am 4.7.1889 [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 134]. Er traf am 5.7.1889 in München ein.. Wir gehen fast jede Woche einmal die auf die
Fasaneriebeliebtes Ausflugsziel mit dem Ausflugslokal Forsthaus Fasanerie in Kranichstein, Entfernung von Darmstadt rund 5 Kilometer [vgl. Adressbuch von Darmstadt 1889, S. 516].. Es ist ein W/w/underhübscher Platz im Wald. Dort essen wir allmal(schweiz.); jedesmal. zu Nacht. Wir
bekommen Bier, Fleisch, Schweizerkäsedreimal unterstrichen. | Brot
und Butter. Dann sehen wir die Wildschweinfütterung an, welche auch sehr
interessant ist. Letzthin war es besonders fidel dort. Wir gingen unserer 5
Mädels f zur Fütterung. Da war nun ein Schwein welches schon gar nicht
zufrieden zu sein schien. Ich reitzte es indem ich seine Stimme ganz täuschend
nachahmte. Es sah uns nun an als wolt/l/e es uns verschlingen. Auf
einmal überlief uns ein Schauder. Wir namenSchreibversehen, statt: nahmen. alle 5. Reißaus und als wir wieder
bei den andern ankamen freuten wir uns so über unsere eigene Dummheit daß wir
in ein helles Gelächter ausbrachen. Morgens stehe ich um 7. auf und gehe Abends
um 9 in’s Bett. Letzthin war es fidel. Ich war am Abend um 9 ins Bette und habe
dermaßen geträumt daß ich am andern Morgen erst aufwachte als es zum
herunterkommen | schellte. Ich wußte nicht daß es schon einmal geschellt hatte
und zog mich also ganz gemütlich an. Als ich nun herunter kam waren schon alle
vertigSchreibversehen, statt: fertig. mit Kaffee trinken. Alle lachten mich aus und nicht einmal Frl. Widerentweder Charlotte Wider oder Sophie Wider, beide Vorsteherinnen des Darmstädter Mädchenpensionats.
war ungehalten über mein Ausbleiben. Auf meinem Teller lagen zwei kollosaleSchreibversehen, statt: kolossale. dickgeschmirtereichlich belegte. Weck(südhess.), Wegg (schweiz.); Brötchen..
Im ganzen Haus wo ich hin kam fragte man mich ob ich gut geschlafen hätte. Den
Tag über habe ich immer Stunden. Am Abend wird immer in Reih und Glied in den
KuhwaldFlurname; welche Grünanlage in Darmstadt gemeint ist, ist unklar. gegangen welches mir jetzt dann bald langweilig ist. Es muß ja da in deiner
WohnungWedekind notierte am 16.7.1889 in München über seinen erneuten Umzug in der Stadt: „Ich suche nach einer Wohnung [...] und finde schließlich was passendes in der Akademiestraße über vier Stiegen ein langes darmartiges Zimmer mit Alkoven zu 15 Mk.“ [Tb]. recht gemütlichkeitSchreibversehen, statt: gemütlich sein.. Aber ich möchte doch nicht an deiner Stelle sein,
denn wie deine WirtinWedekind hat am 18.7.1889 im Tagebuch notiert: „Ich ziehe bei Frau Mühlberger ein.“ Seine Zimmerwirtin, die Witwe Anna Mühlberger, die seit 1889 eine Wohnung im Parterre (links) in der Akademiestraße 21 hatte, war eine „Kleidermacherin“ [Adreßbuch von München für das Jahr 1890, Teil I, S. 235]; Artur Kutscher sprach von „einer alten Wäscherin“ [Kutscher 3, S. 189]. erSchreibversehen, statt: es. treibt, so das heiß ich doch die Kultur zu weit getrieben.
Siehst Du, da hanters wiedergemeint sein dürfte: da haben wir es wieder., die Minna kann dir schreiben mir aber nicht
hätte sie noch keinen Buchstaben geschrieben. Du muß in Deinem | nächsten Brief
besser schreiben, denn das Gekritzel kann ich fast nicht lesen. Ich hätte den
letzten Brief nicht entziffern können wenn mir nicht Angelique (eine
Pensionärin) dabei geholfen hätte. Eben habe ich Sadi’s BriefKarl Henckells Brief an Emilie (Mati) Wedekind ist nicht überliefert. (den alten) in
der Hand. Er schreibt allerdings deut kleiner, aber doch 1000 mal
deutlicher als Du. Jetzt soll ich etwas wissen von Sadi, der würde nie die Feder in die Hand
nehmen um mir ein Wort zu schreiben, der kann nur anderten Leutander Leut (südhess.) = andere Leute.
anhimmeln. Hat er dir auch noch nicht geschrieben. Das Buch das diesen HerbstKarl Henckells neuer Gedichtband „Diorama“ erschien zwar vordatiert auf 1890 im Verlags-Magazin (J. Schabelitz) in Zürich, versehen mit einem auf den 2.9.1889 datierten Vorwort des Verfassers [vgl. Karl Henckell: Diorama. Zürich 1890, S. IX], wurde aber „auf Grund von § 11 des Reichsgesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 28. Oktober 1878“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 276, 27.11.1889, S. 6345] verboten.,
von ihm, heraus kommt möchte ich wirklich auch sehen. Es nimmt mich wunder in
welcher Tonart er jetzt wieder jammert. Nicht wahr lieber Bebi wenn Du etwas
hast drucken lassen schickst Du es mir auch gleich. Ich habe mir das wegen dem
langweiligen und interressantenSchreibversehen, statt: interessanten. mit diamantenen Buchstaben auf die Hirntafel
geschrieben. Das wirst w/Du/ wol schon aus meinem Brief lesen.
(Wildschwein u.s.w.) Gestern Abend habe ich einen Brief vom BeinBein war ein Spitzname von Armin Wedekind. Sein Brief an Emilie (Mati) Wedekind ist nicht überliefert. Emilie (Mati) Wedekind bezieht sich in einem undatierten Brieffragment [AfM Zürich, PN 169.5:055] an ihren Bruder Armin Wedekind auf diesen Brief. erhalten der
mich teilweise betrübt | Besonders hat es mich betrübt daß ich habe hören
müssen daß Doda in Amerika herumstreicht und sich nichts weniger als gut
aufführt. Wir scheinen ja eine ganz reizende SchwägerinAnna Kammerer aus New York hat am 25.7.1889 in Zürich ihren Cousin William Wedekind geheiratet, den zweitjüngsten Bruder von Emilie (Mati) und Frank Wedekind. bekommen zu haben. Es
hat mich ganz empört daß ein Teil von der Schanz abgebrochen wirdWedekind hielt dazu am 15.8.1889 im Tagebuch fest: „Vormittag erhalt ich einen Brief von Mati der mich in Schrecken setzt durch die Nachricht, die Schanze solle abgebrochen werden.“ Er hat von dem Plan, die Schanze, ein Befestigungswerk auf Schloss Lenzburg, abzureißen, durch den Brief der Schwester erfahren. „Im Jahr 1889 waren diverse Restaurierungsarbeiten, [...] auch an der Schanze [...] auf Schloss Lenzburg, notwendig geworden. Im Zuge dieser Arbeiten beschloss die Gemeinde Lenzburg, den Schlossfelsen wegen eines möglichen Absturzes untersuchen zu lassen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 149], wobei diese am 26.2.1890 abgeschlossenen Untersuchungen ergaben, ein Abbruch der Schanze sei nötig, was wiederum zum Streit zwischen Emilie Wedekind und der Stadt Lenzburg führte [vgl. ebd.].. Die Schanz ist doch eins r
fast der schönste Bau der am Schloß ist. Jetzt auch nur wegen der lumpigen Wasserleitung.
Gestern habe ich mir einen neuen Hut und einen neuen Schirm gekauft. Der Hut
ist ein ganz etntsetztliches Monstrum, aber, sie sind jetzt halt
so mode. Wir müssen hier jeden Sonntag in die Kirche tanzen. Heute morgen bin
ich fast eingeschlafen. Heute Mittag hatten wir fammoses Vanillieneis. Ach! ich
weiß jetzt auch gar nichts mehr zu schreiben. Ich will jetzt schließen mit 1,000,000 Küssen verbleibe ich dein treues
Schwesterschen
Mati.