Salzburg 27.II.1915.
Lieber Frank!
Auf meinen Brief vor 14 Tagenvermutlich der drei Wochen zurückliegende Brief Friedrich Strindberg an Wedekind vom 6.2.1915. kann ich Dir heute
gottseilob sagen, daß meine BefürchtungenIn seinem letzten Brief hatte Friedrich Strindberg die Befürchtung geäußert, eingezogen zu werden [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 6.2.1915]. unbegründet oder wenig begründet
waren. Hoffentlich hast Du nun bereits das Bett endgültig verlassenWedekind war am 29.12.1914 am Blinddarm operiert und am 9.1.1915 aus der Klinik entlassen worden. Am 12.1.1915 notierte er im Tagebuch: „stehe auf, nehme mir den Bart ab.“ und
befindest Dich wieder wohl. Wenn ich Dir heute schreibe, so liegt hinter mir
eine Woche, glücklich wie ich selten seit vergangenem Jahre eine verbracht
habe. Und was war daran schuld? – Nicht wahr, Du nimmst es mir nicht übel, wenn
ich Dir alles erzähle – hoffentlich freut es Dich auch ein wenig wie es mich
freut Dir, lieber Frank, alles zu erzählen. Nun, vergangenen Sonntag, nach
einer Stunde Ärger und Angst nicht befreit werden zu können gelangte ich außer
unsere Mauer, in der Hand eines jener Dingerchen hald/t/end, die bei uns
„Urlaubsscheine“ heißen. Er machte mir die Finger heiß, weil ich zu Verwandten
eines meiner Kollegender Mitschüler, die besuchten Frauen sowie deren Eltern konnten nicht ermittelt werden. eingeladen war, angeblich zu dessen Eltern, in
Wirklichkeit zu seinen Schwestern und einer andern jungen Dame, die meine
Jugendseligkeit nun am Gewissen hat. Sie ist recht freundlich und hat eine
schönere Seele„Schöne Seele (nach Rousseau in der ‚Neuen Heloise‘ und Goethe in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘), das moralisch wie ästhetisch feinfühlende Gemüt“ [Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, 5. Aufl. Bd. 2. Leipzig 1911, S. 650]., d.h. sie „draht“österreichisch für drehen; hier für tanzen. – wie man hier sagt, mit ihrem | Papa, wie ich
eben erfahre, täglich bis 2h., was nach hiesigen Begriffen
das Maß bedeutet. Ein chinesisches SchauspielIn seinem nächsten Brief berichtet Friedrich Strindberg bereits vom Abschluss des Dramas mit dem Titel „Der verlorene Gatte“ [vgl. Friedrich Strindberg, 14.3.1915]. soll ich für die junge Dame
schreiben, wo sie ein alter, häßlicher Lautenschläger sein muß. Sonst ist sie
zu schön. In drei Wochen soll es fertig sein. Unmöglichkeit hinauszukommen ein
zweites mal, dasSchreibversehen, statt: da.
unser Herr Direktor etwas gewittert hat. Also: mit 10 Seiten Vergilübersetzung
muß ich mir den Ausgang bei einem meiner Herrn Präfekten erkaufen. Teuer: 10!
Seiten! Vergill! – man muß sich alles verdienen und unser Herr PräfektErzieher in Internaten; Identität nicht ermittelt.
meint es sicher gut mit mir, daß er mirSchreibversehen, statt: mich. so viel lernen läßt. Er wird ja ahnen wie gern ich es schon
tue. Nur die Tage vergehen zu langsam.
Sonst ist alles beim alten. Ich habe mich anfangs sehr
geängstigt, als ich von einer OperationWedekinds erste Blinddarmoperation am 29.12.1914 [vgl. Tb]. las und freue mich umso mehr, daß alles
anscheinend gut abgelaufen ist. Mit Großmama stehe ich im besten Einvernehmen, die Frucht
einiger ernstgemeinter Aufsätzenicht überliefert. von mir, die ich ihr vorlas. Ich konnte
unmöglich ahnen, daß der Umstand, daß ich über einige Dinge nachdenklich wurde,
so ernste freundliche Folgen haben könne. Solange die Großmama zu mir
lieb ist, habe ich sie sehr gern, habe ich ihr ja soviel zu danken. |
Mein StückDas als „Epiphania“ geplante Stück [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 24.5.1914] hat Friedrich Strindberg zwischenzeitlich für abgeschlossen erklärt [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 30.11.1914], danach aber noch mehrfach umgearbeitet und umbenannt. habe ich zu einem EinackterSchreibversehen, statt: Einakter. umgeformt und wenn er mir wieder
nicht behagt, möchte ich es am liebsten verbrennen. Aber es ist mir doch noch
lieb. Hat es ja so viel, drinnen, was ich mit voller Seele hinschrieb; nun
stellt es einen Pechvogel da, dem alles mißlingt, schließlich sogar sein Selbstmord.
Ich versuchte zum erstenmal an fremden GestaltenAls Friedrich Strindberg in den Figuren seines ersten Dramas mit dem Titel „Menschenrecht“ vorwiegend Personen aus Wedekinds Münchner Freundeskreis darstellte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 17.2.1914], war es zu einem mehrmonatigen Zerwürfnis mit seinem Vater gekommen, der sich und seine Familie kompromittiert sah [vgl. Wedekind an Friedrich Strindberg, 24.8.1914]. mein Glück. Herr Salten hat
meine Frühere Fassung völlig verurteiltFriedrich Strindbergs Korrespondenz mit Felix Salten ist nicht überliefert. Er hatte seinem Vater in einem früheren Brief mitgeteilt, dass er sein Stück an Salten zur Lektüre gegeben habe [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 20.12.1914].. Er hatte ganz recht, und d tat
er es ohne Ahnung, daß ich längst wußte, was ich zu hören bekäme und worauf ich
leider beim Schreiben vergessen habe. Meine Urmenschen sprachen nämlich nicht
menschlich sondern göttlich und bevor sich ein junger Mann an einem Mädchen
vergriff, erzählte er ihr ein pathetisches Gleichniß von einer Meereswoge, die
gegen Himmel spritzt, der Himmel treibt mit ihr Schabernack u.s.w. Auch ist ein
weiterer Unterschied, daß einem Lustmörder früher der Kopf abgeschnitten wurde
und nun träumt er es nur. SchlißlichSchreibversehen, statt: Schließlich.
kommen statt sieben Gehängten nur eine Ertrunkene vor und deshalb taufte ich es
„Kampf“. – Ich wollte es Dir sogerne vorlesen, und wäre so gespannt Dein Urteil
zu hören, aber ich glaube es werden wenig Aussichten sich bieten. Nach
Deutschland hinaus kann ich nicht mehrDie „Verordnung des Ministers für Landesverteidigung und des Ministers des Innern vom 25. Juli 1914, betreffend die Verhütung von Wehrpflichtverletzungen durch Grenzüberschreitung“ in Österreich sah vor: „§ 1. Den Wehrpflichtigen ist die Überschreitung der Grenzen der Monarchie nach dem Auslande verboten.“ [Reichsgesetzblatt für die im Reichsrate vertretenen Königreiche vertretenen Königreiche und Länder, Jg. 1914, 81. Stück, Nr. 166, Wien, S. 841], vielleicht, lieber Frank, wenn Du
einmal wieder Salzburg im Frühlingskleid besuchen wolltest. Bitte, sei mir
nicht böse, ich will Dich nicht um Dinge bitten, die Du ja | Selbst am besten –
für Dich und mich – einrichten wirst. Nicht wahr, Du verzeihst mir diese obige
Unbescheidenheit, die ich niederschrieb.
Hier gibt es wenig Neues, Anna Bahr-Mildenburg singtDie berühmte Sopranistin Anna von Mildenburg (Gattin Hermann Bahrs) trat am 17.2.1915 gemeinsam mit dem Kammersänger Leo Slezak bei einem „Außerordentlichen Konzert“ im Großen Saal des Mozarteums auf „zu Gunsten des ‚K. k. Truppenspitals‘ u. der ‚Notstandsaktion der Stadtgemeinde‘“ [Salzburger Volksblatt, Jg. 45, Nr. 36, 15.2.1915, S. 8]. Die Presse erklärte die Veranstaltung „zu einem musikalischen Ereignisse des ersten Ranges. Zwei Kunstgrößen von europäischem, ja man kann sagen von Weltruf, […] ermöglichten durch ihre selbstlose Mitwirkung dem Mozarteum das Zustandekommen eines Konzertes für Zwecke der Kriegsfürsorge […], das in seinem glänzenden Verlaufe wohl noch lange in der Erinnerung aller Teilnehmer bleiben wird. Der Saal war überfüllt; was in unserer Stadt Namen und Rang besitzt, alle musikfreundlichen Kreise waren vertreten und schwelgten in den auserlesenen Genüssen, die der Abend bot. Frau Bahr-Mildenburg sang, lebhaft begrüßt, mit dem ganzen Wohllaut ihrer machtvollen Stimme Lieder von Schubert, H. Wolf und J. Brahms und als stürmisch aufgenommene Zugabe ‚Schmerzen‘ von Richard Wagner. Der künstlerisch vollendete, durch echt dramatischen Ausdruck belebte Vortrag rief nach jeder Nummer einen wahren Beifallssturm hervor“ [Salzburger Volksblatt, Jg. 45, Nr. 39, 17.2.1915, S. 7f.]. am
Mozarteumdie 1841 gegründete Salzburger Musikschule., O. A. H. SchmitzGemeint ist hier nicht der Schriftsteller Oscar Adolf Hermann Schmitz, sondern der Münchner Musikwissenschaftler und -kritiker Eugen Schmitz. Er war Ende Mai 1914 als Nachfolger von Robert Hirschfeld als Direktor des Mozarteums berufen worden, verlor dieses Amt jedoch bereits wieder am 13.2.1915. Sein Vertrag war bereits am 13.11.1914 gekündigt worden. Eugen Schmitz gab zu dem Vorgang in der Presse eine Erklärung ab [vgl. Salzburger Volksblatt, Jg. 45, Nr. 35, 13.2.1915, S. 7f.] und nannte als Hauptgrund seiner Entlassung den in der Presse formulierten Vorwurf, das Mozarteum habe einen Nichtösterreicher berufen. Offiziell wurden materielle Gründe genannt, die Presse vermutete daneben aber auch interne Intrigen von Konkurrenten um den Direktoriumsposten [vgl. Salzburger Wacht, Jg. 16, Nr. 25, 1.2.1915, S. 5f.]. wurde unfreiwillig aus Salzburg hinausgebracht – er
war Leiter des Mozarteums, das ihm kündigte –; Hermann Bahr sieht man jeden
Sonntag an der Kommunionbank. Ein hiesiger kathol. Kritikervermutlich Johannes Eckardt, der Herausgeber der katholischen Literaturzeitschrift „Über den Wassern“, mit dem Friedrich Strindberg in Kontakt stand [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 6.2.1915]. verglich ihn mir gegenüber demSchreibversehen, statt: mit dem. „munteren
Seifensieder“Hermann Bahrs „Der muntere Seifensieder. Ein Schwank aus der deutschen Mobilmachung“ wurde am 18.1.1915 am Stuttgarter Hoftheater uraufgeführt und erschien Ende des Monats als Buch. Die Anspielung zielt wohl weniger auf die Figur des Kommerzienrats und ehemaligen Seifensieders Johann August Naeseke in Bahrs Drama, als auf die tradierte Figur des genügsamen und selbstzufriedenen Johann, den munteren Seifensieder, wie sie durch das gleichnamige Singspiel von Wilhelm Nothammer (Wien, 1719) oder das Gedicht „Johann der Seifensieder“ (1738) von Friedrich von Hagedorn populär geworden war., sein ganzes Leben lächelnd und unschuldig. Ich lese gegenwärtig
den Jörn Uhl von Frennsen und finde ihn etwas lg/a/ngweilig. Tolstois
„lebender Leichnam“ hat mir sehr behagt und die „Hedda Gabler“ erinnerte mich
sehr lebhaft an meine liebe Kerstin, die mir erst neulich ihr liebes Skiphoto
sandteDas Foto von Friedrich Strindbergs Schwester Kerstin und die zugehörige Korrespondenz sind nicht überliefert..
Aber einstweilen meine herzlichsten Grüße
Dein
Friedrich Strindberg.