Salzburg den 15. April 1915.
Mein lieber Frank!
Ich muß mich nun wirklich bei Dir entschuldigen, daß ich
solange mit meiner Antwort auf Dein Telegrammnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Friedrich Strindberg, 28.3.1915. Wedekind hatte darin seinem Sohn offenbar mitgeteilt, dass ein Treffen in Salzburg, das sich Friedrich Strindberg für die Osterferien erhofft hatte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 22.3.1915], nicht möglich sei. warten lasse. Mein Vormund, der
ebenfalls von mir für die Tage nach OsternDer Ostersonntag fiel auf den 4.4.1915. Friedrich Strindbergs Ferien begannen in der Woche vor Ostern und dauerten mindestens bis zum 6.4.1914 [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 22.3.1915]. erwartet wurde, blieb aus, da er
eben von Seiten der Militärbehörde versetzt wurde. Die Osterfeiertage
verbrachte ich bei Großmama in Mondsee und wir vertrugen uns recht herzlichst.
Großmama hat gegenwärtig eben einen unangenehmen Prozeß zu erledigen, den ihr
MieterIdentität nicht ermittelt. gegen sie angestrengt hatte. Obwohl die Sache in manchen Augenblicken
nicht ungefährlich schien, löste sie sich doch anscheinend zu Ihren Gunsten.
Auch sonst hatte mein Osterurlaub viele
AhnnehmlichkeitenSchreibversehen, statt: Annehmlichkeiten.. Eine Sonntagnachmittagpartie brachte mich in die Nähe
herum und voll der angenehmsten Hoffnungen verlief der Ostersonntagnachmittag
so angenehm, daß ich ihre Nichterfüllung gar nicht besonders schmerzlich
spürte.
Literarisches habe ich wenig Neues. Nur gelang mir in
Mondsee ganz zufällig zu dem Liedchendas Gedicht „Vor dem weißen Haus“ [vgl. Beilage zu Friedrich Strindberg an Wedekind, 14.3.1915], das ich Dir letzthin | sandte, eine
Melodie mit Gitarrenbegleitung, die Großmama außerordentlich gefiel und die (ich) mich besonders freuen würde Dir
sie m vorzuspielen. Nur ein paar Akkorde in D dur mit dem gewöhnlichen
A-Septimenwechselhäufiger Wechsel bei der Akkordbegleitung auf der Gitarre von D auf A7; zum Beispiel in „O Tannenbaum“ zwischen dem ersten und zweiten Vers.. Mit meinem „Kampf“ habe ich ganz sonderbare Schicksale. Herr
Doktor Eckard, den ich durch sein freundliches Wesen hier recht lieb gewinnen lerne, (er ist
Herausgeber von „Über den Wassern[“]) sagte: er könne über das Stück kein Urteil abgeben. Er fand die
darin ausgesprochenen Gedanken besser als die häufigen papierenen Dialoge – was
mich gar nicht gar so arg entmutigt – und mit meiner Einwilligung unterbreitete
er es der zuständigen Seite, einem katholischen Theologieprofessor Dr.
SeipelIgnaz Seipel, seit 1909 Professor für Moraltheologie an der Universität Salzburg, war maßgeblich beteiligt am innerkatholischen Literaturstreit zwischen den katholischen Zeitschriften „Über den Wassern“ und „Gral“. Seipel antwortete im Juli 1914 mit seinem Aufsatz „Literarische Polemik und katholische Moral“ [Über den Wassern, Jg. 7, Nr. 10, S. 673-697] auf einen Beitrag Franz Eicherts im „Gral“ mit dem Titel „Die Selbstvergiftung des katholischen Schrifttums“ [Jg. 8, Heft 7, 1.4.1914, S. 424–434; Heft 8, 1.5.1914, S. 483–492; Heft 10, 1.7.1914, S. 617–627; Heft 11, 1.8.1914, S. 689–698], den Friedrich Strindberg wegen der darin formulierten Angriffe auf Thomas Mann in einem früheren Brief erwähnt hatte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 24.5.1914]. , der hier in Salzburg unter der katholischen Welt trotz seiner liberalen
Ansichten (– er ist ein Verehrer von Dir –) eine sehr angesehene Stellung
einnimmt. Wenn ich auch schon neugierig auf das Urteil eines Universitätsprofessors bin – er ist noch sehr jungIgnaz Seipel war zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt.
–, so würde mich Dein Urteil, lieber Frank, unvergleichlich mehr freuen und
interessieren in jeder Richtung. Dann schrieb ich noch eine kleine Novelle im
Wertherstil „Das gebrochene Herz“, Tagebuchblätter, wozu mir ein paar
Salzburger DamenIdentitäten nicht ermittelt. in ihrem äußeren Wesen | Modell stehen mußten. Meine
Erlebnisse sind spärlicher geworden und ich war so grenzenlos egoistisch –
jetzt da es vorbei ist kann ich es mir ja gestehen – mir eine Neigung
vorzugauckelnvermutlich zu der in einem früheren Brief genannten „jungen Dame“ [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 27.2.1915]., um – bessere Liebessachen schreiben zu können. Das war nicht
schön von mir. Aber hie und da denke ich, es hätte leicht ernst werden können,
wären durch unsere Kettenum das Salzburger Internat verlassen können, benötigten die Schüler eine schriftliche Genehmigung des Schuldirektors [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 27.2.1915]. – poetischer Ausdruck für Gartenmauer – wir nicht so
von der Außenwelt getrennt. Doch es hat wirklich sein Gutes.
Aber, lieber Frank, sei mir bitte nicht böse, wenn ich so
viel von mir spreche; hoffentlich ist Deine WundeAm 15.4.1915, dem Schreibdatum des vorliegenden Briefes wurde Wedekind wegen der Komplikationen bei der Wundheilung seiner Blinddarmoperation vom 29.12.1914 im Münchner Josephinum ein zweites Mal operiert [vgl. Tb]. auf einem schnelleren Wege
der Besserung begriffen, daß wir uns recht bald, recht bald wiedersehen können.
Rechne es mir, wenn ich das so gerade ausspreche, bitte nicht als
Unbescheidenheit an. Es möge mir ein kleines Zeichen meiner Freude sein, Dich
wiederzusehen! In München muß es wirklich nicht mehr gemütlich sein. Bei uns in
Österreich, darf man ja alles sagen – aber wehe dem, der Mund und Feder
verwechselt! Geschrieben (in der Zeitung) darf gar nichts werden. Ich staune
jeden Monat, daß Wilhelm Herzog noch nicht sitztIn seiner seit April 1914 monatlich erscheinenden Zeitschrift „Das Forum“ verfolgte Wilhelm Herzog von Anfang an eine antimilitaristisch-pazifistische, europäische Haltung, die vom Pressereferat des bayerischen Kriegsministeriums als mangelnder Patriotismus gedeutet wurde und zu zahlreichen Konflikten mit der Zensur führte, die den Autor in die Nähe des Hochverrats rückte. Am 11.9.1915 wurde die Zeitschrift schließlich verboten. Wedekind hatte dort im April 1914 „Weltlage“ und im Juli 1914 „Schriftsteller Ibsen und ‚Baumeister Solness‘. Ein kritischer Essay“ publiziert. Außerdem sind etliche Beiträge über Wedekind im „Forum“ erschienen.. Draußen scheint man beinahe
alles schreiben zu dürfen. Mit der offenen Sprache scheint es bei uns besser zu
sein. |
Nun bin ich also schon über einen Monat bei den
Jungschützen SalzburgsFriedrich Strindberg hatte sich auf Anraten seines Cousins und Vormunds Cäsar Ritter von Weyr einem Jungschützenkorps angeschlossen, das sich die militärische Schulung von Jugendlichen zur Aufgabe machte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 6.2.1915].. Wir exerzieren und es ist wirklich gut, vom
soldatischen Geist, der heute die Welt zu regieren scheint, ein wenig Ahnung zu
bekommen. In Reih und Glied hört jedes „Einzelfühlen“ auf. Auch die Disziplin
hat ihren nicht zu unterschätzenden Wert.
Über Liebknecht, Lebedourirrtümlich für Ledebour., Rosa Luxembourg etc. ist man hier recht entrüstetvermutlich in Anspielung auf eine kurz zuvor publizierte Zeitungsmeldung: „Die Herrn Liebknecht und Genossen haben […] ihren bisherigen Taktlosigkeiten eine neue zugefügt. Sie haben auf dem Umwege über Holland der Pariser ‚Humanité‘ ein Manifest der Minorität der deutschen Sozialdemokratie zur Veröffentlichung übersandt, dessen Form und Inhalt charakterisiert wird durch Ausführungen, wie folgende: ‚Die Opposition gegen diesen verabscheuungswürdigen Krieg ist in Deutschland ständig im Wachsen. Wenn wir auch, unter dem eisernen Drucke der Kriegsgesetze stehend, daran gehindert sind, öffentlich unsere Meinung auszudrücken, so kann uns doch die Zukunft eine Ueberraschung bringen. Von der Haltung unserer sozialistischen Genossen in Frankreich, England und Belgien hängt für uns die Möglichkeit einer Aktion gegen den Krieg ab.‘ Die Verfasser des Manifests, zu deren Gruppe nach der ‚Humanité‘ neben Karl Liebknecht auch Ledebour, Rühle, Franz Mehring, Klara Zetkin und Rosa Luxemburg zu rechnen sind, versichern den französischen Genossen, daß das deutsche Proletariat durchaus nicht einverstanden sei mit den Erklärungen eines Scheidemann eines Heine, ‚eines Dutzends Führer, die durch den Krieg vollständig verrückt gemacht worden sind‘“. [Liebknecht und Genossen. In: Salzburger Volksblatt, Jg. 45, Nr. 81, 12.4.1915, S. 10] und man
wundert sich, daß man diese Leute nicht einfach wie bei uns den Tschechen
Klovač aufgehängt hatDer sozialistische tschechische Abgeordnete Václav Klofáč war Mitglied des Österreichischen Abgeordnetenhauses und des Böhmischen Landtages. Er wurde bei Kriegsbeginn wegen des Verdachts auf Hochverrat inhaftiert. Die Presse meldete: „Wie berichtet, wurde gestern in der Wohnung des Abg. Klofač eine eingehende Hausdurchsuchung vorgenommen. Die Durchsicht der mit Beschlag belegten Briefschaften scheint belastendes Material ergeben zu haben. Auf Grund des Ergebnisses dieser Sichtung wurde die Verhaftung Klofačs angeordnet. Die Ergebnisse der Hausdurchsuchung werden nunmehr den Gegenstand einer militärgerichtlichen Amtshandlung bilden.“ [Prager Tagblatt, Jg. 39, Nr. 224, 5.9.1914, Abend-Ausgabe, S. 12] Von einer Verurteilung oder geplanten Hinrichtung des Abgeordneten ist nichts bekannt. Václav Klofáč wurde im Zuge der Amnestie politischer Gefangener durch Kaiser Karl I. vom 2.7.1917 ohne Urteil entlassen.. Deutschland muß in manchen Dingen ein Wunderland sein.
Schon einmal diese strenge Einhaltung der BrotkartenDer Kauf von Brot und Mehl war seit dem 11.4.1915 in Österreich nur gegen das Vorzeigen einer wochenweise gültigen Brotkarte möglich, die abschnittsweise entwertet wurde. Die Einführung der Karte und mögliche Komplikationen wurden von der Presse im Vorfeld breit diskutiert, die ersten Tage nach ihrer Einführung dann aber als reibungslos geschildert. In Berlin war die Brotkarte bereits am 22.2.1915 eingeführt worden.! Und so vieles mehr.
Aber hoffentlich bessert sich Dein Befinden recht rasch,
und hoffentlich ist der Punkt der Gefahr schon befriedigend überwunden!
Das wünscht Dir aufrichtig und von ganzem Herzen
in Liebe
Dein
Friedrich Strindberg.