[1. Abgesandter Brief:]
Sehr geehrter Herr Block!
Empfangen Sie meinen verbindlichsten Dank für Ihre
liebenswürdigen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Paul Block an Wedekind, 16.12.1911. Paul Block dürfte Wedekind um Auskunft über seine aktuelle schriftstellerische Arbeit gebeten haben, wie aus dem vorliegenden Brief hervorgeht, um einen Beitrag zur Umfrage „Unsere Schriftsteller bei der Arbeit“ im „Berliner Tageblatt“ (siehe Kommentar zum Erstdruck).. Augenblicklich bin ich mit s/e/iner sehr
umfangreichen RolleWedekind spielte in der Münchner „Oaha“-Inszenierung (siehe unten) die Rolle des Georg Sterner (Vorbild der Figur war Albert Langen), nicht die des Max Bouterweck (diese Figur ist von Wedekind selbst inspiriert), wie die Kritik verwundert bemerkte [vgl. KSA 8, S. 624f.]. Ein fragmentarisch erhaltenes Handexemplar der 2. Auflage von „Oaha“ (1909) diente ihm als Rollenbuch; der Rollentext des Verlegers Georg Sterner ist darin besonders markiert [vgl. KSA 8, S. 606, 645f.]. Es fanden seit dem 11.12.1911 bis zur Premiere am 20.12.1911 insgesamt neun Proben statt, wobei Wedekind die von ihm gespielte Rolle im Tagebuch ausdrücklich vermerkte – so am 14.12.1911 („Sterner gelernt“), 15.12.1911 („Suche Steinrück wegen Maske auf. Beim Hoftheaterfriseur Bart bestellt [...] Sterner gelernt“) und 17.12.1911 („Steinrück kommt zu Tisch macht mir Sternermaske“). in meiner Komödie „Oaha“ beschäftigt, die am nächsten
Mittwochder 20.12.1911, an dem Wedekind notierte: „Durchsprechprobe. Vorstellung.“ [Tb] Die Uraufführung von „Oaha“ fand am 20.12.1911 um 19.30 Uhr als geschlossene Vorstellung im Münchner Lustspielhaus (Direktion: Eugen Robert) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 558] statt, veranstaltet vom Neuen Verein: „Die Aufführung von Frank Wedekinds Komödie Oaha findet heute Mittwoch im Münchner Lustspielhause statt. [...] Die Regie führt Direktor Dr. Roberts. Die Vorstellung beginnt um halb 8 Uhr.“ [Vom Neuen Verein. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 594, 20.12.1911, Morgenblatt, S. 3] Textgrundlage war die Neufassung des Stücks als Komödie: „Oaha, die Satire der Satire“ (1911). „Eugen Robert inszenierte eine Lokalposse und spekulierte auf den Erfolg bei dem sachverständigen Premierenpublikum, das alte Bekannte als komische Masken wiedersehen durfte. Die sauertöpfische Kritik lobte das Theater und strafte zugleich den Verfasser des ‚Schlüsselstückes‘ ab.“ [KSA 8, S. 606] in einer Sondervorstellung des Neuen Vereines in München unter der sehr
sorgfältigen und verständnisvollen Regie des Herrn Direktor Dr. Robert zur
Aufführung gelangen soll. Die A/V/orstellung muß eine geschlossene seinEugen Roberts Antrag auf öffentliche Aufführung von „Oaha“, um die er sich seit zehn Monaten bei der Münchner Polizeidirektion bemühte, wurde am 16.11.1911 abgelehnt [vgl. KSA 8, S. 606].
und hat den neuen Verein als Protektor(lat.) = Beschützer; hier: Schirmherr. Die Protektion des Neuen Vereins e.V. (Vorsitzender war der Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Rosenthal) bestand darin, dass er die geschlossene Vorstellung veranstaltete (siehe oben), wie Wedekind von Eugen Robert am 23.11.1911 erfuhr: „Robert kommt und erzählt von Oahaaufführung durch N.V.“ [Tb] nötig, da der Polizei|präsident eine
öffentliche Aufführung aus GründenWedekind hatte in einem offenen Brief „Drei Fragen“ [KSA 5/II, S. 418f.] den vom Münchner Polizeipräsidenten Julius von der Heydte genannten Grund für das Verbot von „Oaha“ – er habe die öffentliche Meinung gegen sich – publik gemacht [vgl. Wedekind an Münchner Neueste Nachrichten, 20.9.1911]. die Niemandem verständlich sind, verboten
hatDie Polizeidirektion München hatte am 24.5.1911 beschlossen: „Die Aufführung des Schauspiels Oaha von Frank Wedekind wird bzw. bleibt verboten.“ [KSA 8, S. 620] Wedekind notierte am 31.5.1911: „Oaha verboten.“ [Tb] Die Polizeidirektion teilte der Direktion des Lustspielhauses am 16.11.1911 endgültig mit: „Bei dem schon früher ergangenen Verbot der öffentlichen Aufführung des Schauspiels ‚Oaha‘ von Frank Wedekind hat es sein Verbleiben.“ [KSA 8, S. 623]. Im übrigen bin ich damit beschäftigt, drei Einakter, die ich vor einem
Jahr veröffentlichte zu einem Abendfüllenden bühnengerechten Drama
zusammenzustellen. Die Einakter heißen: „In allen Sätteln gerecht“, „m/M/it allen
Hunden gehetzt“ und „In allen Wassern gewaschen.“ Der Gesammttitel des
dreiaktigen Schauspiels lautet: „Schloß Wetterstein.“ Ich bin mir vollkommen
bewußt, daß meine Arbeit auf den heftigsten Widerspruch stoßen wird und zwar
infolge der Vorgänge in den drei Akten, die etwas abenteuerlicher Art sind. Ich
hoffe aber, daß man diese Vorgänge allmählig als unwesentlich und | nebensächlich
und betrachten und dann mehr auf den In geistigen Gehalt der
einzelnen Dialoge achten wird. Gegenstand dieser Dialoge ist ausschließlich die
Ehe. Von einigen Episodenfiguren abgesehen hat das ganze Drama nur drei
Personen und zwar: der Mann, das Weib, das Kind. Hauptperson des ersten Aktes
ist der Mann, im zweiten Akt ist es das Weib, im dritten das Kind.
Im Lauf des Winters fe denke ich diese Arbeit noch
fertig zu stellenWedekind nahm an den Einaktern „In allen Sätteln gerecht“ (1910), „Mit allen Hunden gehetzt“ (1910) und „In allen Wassern gewaschen“ (1910) zwischen dem 14. und 17.9.1911 „umfangreiche Kürzungen vor“ [KSA 7/II, S. 657] und arbeitete sie um in das Schauspiel „Schloß Wetterstein“ (1912), dessen Manuskript er als Druckvorlage für die Buchausgabe fertiggestellt seinem Verleger Georg Müller am 12.2.1912 übergab [vgl. KSA 7/II, S. 658].. Mit einer Aufführung zu meinen Lebzeiten„Schloß Wetterstein“ wurde am 15.11.1917 im Pfauentheater in Zürich uraufgeführt. kann ich dabei
unmöglich rechnen. Das Bewußtsein muß mir genügen, die seelischen Probleme die
in mir nach Gestalt und Form rangen, künstlerisch bewältigt zu haben. Wenn
niemand das Bedürfnis hat die Ausführbarkeit meines Experimentes nachzuprüfen,
so braucht mich das nicht zu verstimmen.
Und nun, verehrter Herr Block, empfangen | Sie noch einmal
meinen herzlichen Dank für das große Interesse, das Sie für meine Arbeit übrig
haben und seien s/S/ie bestens gegrüßt von
Ihrem ergebenen
Frank Wedekind.
17.12.11.
[2. Druck:]
Im bin damit beschäftigt, drei Einakter, die ich vor
einem Jahr veröffentlichte, zu einem abendfüllenden, bühnengerechten Drama
zusammenzustellen. Die Einakter heißen: „In allen Sätteln gerecht“, „Mit allen
Hunden gehetzt“ und „In allen Wassern gewaschen“. Der Gesamttitel des
dreiaktigen Schauspiels lautet: „Schloß Wetterstein.“ Ich bin mir vollkommen
bewußt, daß meine Arbeit auf den heftigsten Widerspruch stoßen wird, und zwar
infolge der Vorgänge in den drei Akten, die etwas abenteuerlicher Art sind. Ich
hoffe aber, daß man diese Vorgänge allmählich als unwesentlich und
nebensächlich betrachten und dann mehr auf den geistigen Gehalt der einzelnen
Dialoge achten wird. Gegenstand dieser Dialoge ist ausschließlich die Ehe. Von
einigen Episodenfiguren abgesehen hat das ganze Drama nur drei Personen, und
zwar: den Mann, das Weib, das Kind. Hauptperson des ersten Aktes ist der Mann,
im zweiten Akt ist es das Weib, im dritten das Kind.
Im Laufe des Winters denke ich diese Arbeit noch fertigzustellen.
Mit einer Aufführung zu meinen Lebzeiten kann ich dabei unmöglich rechnen. Das
Bewußtsein muß mir genügen, die seelischen Probleme, die in mir nach Gestalt
und Form rangen, künstlerisch bewältigt zu haben. Wenn niemand das Bedürfnis
hat die Ausführbarkeit meines Experimentes nachzuprüfen, so braucht mich das
nicht zu verstimmen.
Frank Wedekind.