Liebe Mama!
Von ganzem Herzen gratuliere ich Dir zum heutigen TageEmilie Wedekinds 60. Geburtstag war am 8.5.1900. und
wünsche Dir daß Du noch sehr viel Freude und über nichts zu klagen haben
mögest. Eure Rosen im Garten beginnen jetzt wol schon zu blühen und die kleine
Eva wird Dir deine Mühe gewiß auch mit jedem Tag den sie älter wird mehr
vergelten. | Was mich betrifft so sitze ich in einer entzückenden WohnungIn die Wohnung in der Franz Josephstraße 42 in Schwabing war Wedekind am 21.3.1900 gezogen [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 21.3.1900] und dort seit dem 22.3.1900 gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. in
einer Vorstadt Münchens, durchaus modern eingerichtet, freilich noch mit wenig
Möbeln, aber die muß die Zeit bringen. Bis Du wieder einmal in die Schweiz
reist oder von dort zurückkommst hoffe ich so weit zu sein, auch jemanden bei
mir beherbergen zu können. Mein neues fünfaktiges Stück an das ich eben die
letzte Hand lege erscheint in den nächsten drei MonatenWedekinds Schauspiel „Marquis von Keith“ erschien zuerst unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“ in den Monaten April bis Juni in Fortsetzungen in der Zeitschrift „Die Insel“ (Herausgeber: Otto Julius Bierbaum, Alfred Walther Heymel, Rudolf Alexander Schröder) [Jg. 1, Bd. 3, Nr. 7-9 (April bis Juni 1900), S. 3-76, 166-198, 255-310; vgl. KSA 4, S. 425]. in der pompös
ausgestatteten Zeitschrift „Insel“ | mit der ich mich auf den besten Fuß
gestellt und auch für die ZukunftIm August beklagte Wedekind zunächst den Abbruch der Beziehungen zu dem „Insel“-Herausgeber Alfred Walter Heymel [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24. und 28.8.1900]. 1901 erschien in der Zeitschrift der „Prolog zum Erdgeist“ [vgl. Die Insel, Jg. 2, Nr. 6 (März 1901), S. 351-354], 1903 dann der Zeitschriftenvorabdruck von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ [vgl. Die Insel, Jg. 3, Nr. 10 (Juli 1903), S. 19-105]. festen Vertrag gemacht habe. Ich werde froh
sein wenn ich endlich mit der Arbeit fertig bin um mich wieder meiner Bühnenthätigkeit zuwenden zu
können. Mit dem ersten Regisseur des hiesigen Hoftheaters habe ich mich dahin
verabredet, daß er mir meine Rollen einstudiertSchon während seiner Haftzeit plante Wedekind nach seiner Entlassung Schauspielunterricht zu nehmen [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899], um vermehrt in seinen Stücken auftreten zu können. Der geplante Unterricht bei dem Hofschauspieler Fritz Basil, seit 1896 auch Regisseur am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 455], kam jedoch erst später zustande und lässt sich erst für Frühjahr 1904 belegen [vgl. Tb 15.4.1904].. Die ersten zwei Monate meines hiesigen
Aufenthaltes waren ziemlich verdüstert durch die unerquicklichen AbrechnungenDie Korrespondenz mit Albert Langen und seinem Verlag aus dieser Zeit ist nicht überliefert. Einblick in den Gegenstand der Auseinandersetzungen gewähren die Briefe an Walther Oschwald [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 15.3.1900 und 16.3.1900].
mit Albert Langen, die ich aber | durch Ausdauer und Hartnäckigkeit zu meiner
vollen Zufriedenstellung zu Ende geführt habe. Langen sitzt gegenwärtig mit
seiner Frau in Zürich und wäre frohAlbert Langen war im Oktober 1898 noch vor Wedekind, unverzüglich nach der Beschlagnahmung des „Simplicissimus“, über Zürich und Rom nach Paris geflohen, um einer Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen, und war, anders als Wedekind, nicht bereit, sich den Behörden zu stellen. Er konnte erst im April 1903 nach Deutschland zurückkehren. Kurz zuvor war er, gegen Zahlung eines Bezeigungsgeldes in Höhe von 20.000 Mark, begnadigt worden [vgl. Abret/Keel 1985, S. 33-38]. wenn er an meiner Stelle wäre.
Grüße Walther und Mieze aufs herzlichste. Mit dem bestenSchreibversehen, statt: den besten. Wünschen
für die Zukunft und herzlichsten Grüßen bin ich dein
treuer Sohn
Frank.
München 7. Mai 1900
Franzjosefstraße 42.II.