FRANK WEDEKIND.
Meine liebe Mama!
ichSchreibversehen, statt: Ich. danke dir herzlichst für deinen lieben GlückwunschHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1901. Es dürfet sich um Glückwünsche zum Jahreswechsel gehandelt haben.. Ich
hätte dir längst geschrieben, wenn ich nicht gerade in den letzten zwei Monaten
auf das fleißigste gearbeitet hätte. Außerdem hatte ich auch sehr gehofft, dich
im Lauf des Winters
wiederzusehen. Aber meine verschiedenen Durchfälle in Berlin und Wiendie Uraufführung des „Marquis von Keith“ (Regie: Martin Zickel) am 11.10.1901 am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) und Wedekinds Auftritte mit dem Vortrag eigener Lieder am Jung-Wiener Theater „zum lieben Augustin“ (Direktion: Felix Salten) im Theater an der Wien bei der Eröffnungsvorstellung am 16.11.1901 und einigen weiteren Veranstaltungen (bis 22.11.1901), die beim Publikum auf Ablehnung stießen, so dass er vorzeitig nach München zurückkehrte: „Frank Wedekind wurde schon seiner Verpflichtungen enthoben und ist abgereist.“ [Illustrirtes Wiener Extrablatt, Jg. 30, Nr. 321, 22.11.1901, S. 8] ließen
mich nicht dazu kommen, den Umweg | über Dresden zu nehmen. Mit meinem jetzigen
StückWedekinds Schauspiel „So ist das Leben“, dessen Manuskript er vor kurzem abgeschlossen hatte [vgl. KSA 4, S. 564], erschien bei Albert Langen Ende Juni [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 148, 30.6.1902, S. 5327]., das im Februar hier zur Aufführung„So ist das Leben“ wurde am 22.2.1902 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) durch den Akademisch-Dramatischen Verein uraufgeführt. gelangt hoffe ich indessen auch nach Dresden zu gelangenWedekinds Hoffnung, das Stück auch am Hoftheater Dresden (Direktion: Nikolaus von Seebach) zur Aufführung zu bringen, erfüllte sich nicht [vgl. Wedekind an Max Halbe, 21.9.1902].. Im
übrigen geht es mir gut. Mit meinem Auftreten bei den ScharfrichternWedekind war Gründungsmitglied des Kabaretts Die Elf Scharfrichter, das am 13.4.1901 im Hinterhaus des Wirtshauses Zum goldenen Hirschen (Türkenstraße 28) eröffnet hatte, und trat bis März 1903 regelmäßig mit dem Ensemble auf. verdiene
ich mehr als mir bis jetzt jemals die edle Muse eingetragen hat. Nächsten
Sommer mache ich vielleicht wieder eine Tournee mit einer größeren
Theatergesellschaftnicht ermittelt; Wedekind nahm im Sommer an keiner Tournee teil..
Als ich in Wien warvom 14. bis 22.11.1901 anläßlich seines Gastspiels im Jung-Wiener Theater „zum lieben Augustin“ (s. o.). erhielt ich eine Einladung von Matinicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 16.11.1901. Wedekinds Schwester war seinerzeit Hauslehrerin im oberösterreichischen Pettighofen. Sie hatte ihren Bruder vermutlich für das kommende Wochenende eingeladen, wo er jedoch bereits wieder in München bei den Elf Scharfrichtern auftrat., der ich aber auch
leider nicht folgen konnte | da ich an dem betreffenden Tag leider schon
wieder in München im Rabbi EsraWedekind trug seine zum Dialog umgearbeitete Novelle „Rabbi Esra“ im Rahmen seiner Auftritte bei den Elf Scharfrichtern vor: „Scharfrichter Frank Wedekind ist aus Wien zurückgekehrt und wird von Freitag an wieder in seinem ‚Prolog‘ und in ‚Rabbi Esra‘ auftreten.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 543, 22.11.1901, Morgen-Blatt, S. 3] auftreten mußte. In unserem nächsten Programm
wird wahrscheinlich
die Kaiserin von Neufundland gespieltWedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) wurde am 12.3.1902 bei den Elf Scharfrichtern uraufgeführt., die ich dir seinerzeit in Dresden
vorlas. Von Donald höre ich nur sehr wenig aber dafür klingt das Wenige nicht
schlecht. Ich hoffe sehr daß ihm das Berliner Leben allmählig zur Überwindung
seiner geistigen Abnormalität verhelfen werde. Vielleicht nimmst du, liebe Mama, wenn du im Frühjahr oder Sommer
in die Schweiz reist, doch einmal den Weg über | München und siehst dir unser
hiesiges Getriebe an. Eben hat der Carneval begonnen. Ganz München steht auf
dem Kopf und man kommt Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Ich glaube nicht daß es
dir hier schlechter als in Dresden gefallen würde.
Und nun leb wohl, liebe Mama, auf recht baldiges
Wiedersehen. Mit den allerherzlichsten Grüßen bin ich dein treuergebener Sohn
Frank.
München 11. Januar 1902.
FranzJosefstraße 42.2/II/.
[Kuvert:]
Hochwohlgeboren
Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strahlen
Julius Ottostrasse 9.