Sehr verehrter Herr ProfessorProf. Dr. Emil Sulger-Gebing, Mitglied des Münchner Zensurbeirats, war Professor der Literaturgeschichte an der Technischen Hochschule in München.!
Empfangen Sie meinen aufrichtigen herzlichen Dank
für die ausführliche WürdigungEs handelt sich bei diesem Text um die Beilage zum Brief von Emil Sulger-Gebing an Wedekind vom 3.4.1911, einer Stellungnahme zu „Tod und Teufel“ („Totentanz“). Wedekind hat ihn auch als Gutachten bezeichnet, so bei Erhalt am 4.4.1911: „Erhalte Gutachten von Prof. Sulger“ [Tb], außerdem in dem von ihm veranlassten Druck im „Kain“ [Jg. 1, Nr. 6, September 1911, S. 94f.], wo er als „Gutachten des Herrn Professor Sulger-Gebing“ zusammen mit Wedekinds offenem Brief an Erich Mühsam vom 16.8.1911 erschien (im Beitrag „Aus dem Münchner Zensurbeirat“)., die Sie meiner Arbeit zutheil werden lassenGestützt auf die Gutachten des Münchner Zensurbeirates war die Verweigerung einer Aufführung von Wedekinds Einakter „Totentanz“ am Münchner Schauspielhaus durch ein erneutes Verbot vom 14.1.1911 bestätigt worden; Wedekind hatte in Erfahrung bringen können, dass nicht alle Gutachter, darunter Emil Sulger-Gebing, die für das Verbot ausschlaggebende Behauptung, „Totentanz“ sei unsittlich, vorgebracht hatten [vgl. KSA 6, S. 668f.]. Wedekind bemerkte am 25.6.1911 in einem Entwurf über das Zensurverbot von „Totentanz“, dass der Hochschulprofessor sich für die Freigabe des Stückes ausgesprochen habe, und notierte dessen Formulierungen: „Prof. Dr. Sulger-Gebing schreibt: / Ein Zensurverbot scheint mir diesem Einakter gegenüber nicht gerechtfertigt. Ich halte ihn für undramatisch und darum für wenig bühnenwirksam ... Die Personen ergehen sich fast ausschließlich in langathmigen theoretischen Auseinandersetzungen.“ [KSA 6, S. 691f.].
Aus der neuerlichen KonfiskationZunächst waren die beiden Hefte der von Wilhelm Herzog und Paul Cassirer herausgegebenen Zeitschrift „Pan“ mit dem Beitrag „Tagebuch des jungen Flaubert“ auf Anweisung des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow beschlagnahmt worden. Heft 6 vom 16.1.1911 enthält einen ersten Teil von Auszügen aus Reisetagebüchern Gustave Flauberts sowie eine Satire Alfred Kerrs über das Verhalten der Polizei angesichts der politischen Unruhen in Moabit im Vorjahr und wurde zuerst konfisziert. Daraufhin erschien in dem aufgrund der Abwesenheit Wilhelm Herzogs wohl allein von Alfred Kerr betreuten Heft 7 vom 1.2.1911 eine Fortsetzung der Tagebücher Flauberts und Kerrs Artikel „Jagow, Flaubert, Pan“, der die Zensurmaßnahme verspottete. Auch dieses Heft wurde sogleich verboten und gegen die Herausgeber Wilhelm Herzog und Paul Cassirer ein Strafverfahren wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften eingeleitet. Die Affäre um die Zensurmaßnahmen gegen den „Pan“ (dort auch weiter kommentiert) fand in der Presse einige Resonanz. Da wurde auf Antrag der Polizei Heft 11 des „Pan“ vom 1.4.1911 mit Herbert Eulenbergs Beitrag „Brief eines Vaters unserer Zeit“ vom Amtsgericht Berlin beschlagnahmt (und der Verfasser der angeblich unzüchtigen Schrift verklagt, wobei der Prozess gegen Eulenberg am 2.9.1911 mit einem Freispruch endete). Als Wedekind den Münchner Literarhistoriker am 1.4.1911 in eigener Sache aufsuchte („Besuch bei Prof. Sulger-Gebing in Nymphenburg“ [Tb]), um ihn um eine vom Vorwurf der Unsittlichkeit entlastende Stellungnahme zu „Totentanz“ zu bitten, wurde wahrscheinlich auch über den aktuellen Zensurfall „Pan“ gesprochen. des Pan wegen eines BriefesBei Herbert Eulenbergs von der Zensur beschlagnahmtem Beitrag „Brief eines Vaters unserer Zeit“ im „Pan“ vom 1.4.1911 [Jg. 1, Heft 11, S. 358-363] handelt es sich um einen fiktiven Brief, in dem ein Diplomat zum Studienantritt seines Sohnes diesem in offenen Worten auf dessen Sexualleben anspricht, Geschlechtskrankheiten und Prostitution thematisiert und für einen humanen Umgang des Studenten mit den Sexualpartnerinnen plädiert. Im Heft des „Pan“ vom 6.4.1911 erschien von Eulenberg „Ein Protest“ gegen die Zensurmaßnahme sowie ein ihn verteidigender Beitrag „Der denunzierte Dichter“ von Wilhelm Herzog, in dem die offizielle Begründung für die Beschlagnahmung abgedruckt war. von Herbert
Eulenberg glaube ich darauf schließen zu dürfen, daß die deutsche Polizei im
Einverständnis gegen die Richtung kämpft, die die Literatur einschlägt, und
damit sicherlich nur ihre Pflicht zu erfüllen glaubt. Ich bin aber auch der
Überzeugung daß diese Richtung keine vorübergehende Mode bedeutet, sondern im
Begriff steht, geistige Wirrnisse aufzuklären, über die die Menschheit | noch nie hinweg gekommen war, daß die Richtung
somit zur größeren Selbstständigkeit des menschlichen Geistes beitragen wird.
Seit zehn Jahren frage ich mich wie es kommt, daß wir über die PhysologieSchreibversehen, gemeint ist: Physiologie. des
menschlichen Körpers fast restlos aufgeklärt sind, während wir über die Physiologie
der Familie, ihr Entstehen und Vergehen so gut wie nichts positives wissen und
auch gar keine Wissenschaft darüber befaßt. Ich halte es nur durch diesen
Umstand für erklärlich daß jährlich tausende von Possen Schwänken Operetten ihr
Glück machen, die sich mit einem stärkeren oder geringeren Ahnen des wirklichen
Thatbestandes auf diesem Gebiet herumtummeln. Anderseits heg ich die
Überzeugung daß Deutschland auf diesem Gebiet der ganzen kultivierten Welt | voran ist, indem ja die englische und
amerikanische Zensur viel strenger als die deutsche arbeitet.
Ich ersuche Sie, sehr geehrter Herr Professor, in
diesen Worten keine Anmaßung zu erblicken sondern nur den Wunsch, mich des
Vertrauens, das Sie mir schenken würdig zu zeigen.
Darf ich Sie bitten, den Ausdruck meiner größten
Hochschätzung entgegenzunehmen.
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 5.4.11.