Berlin-Grunewald
16/18 Wernerstrasse 1.1.16
Lieber Freund, der Freude über Ihr Werk, über die WidmungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchausgabe von Wedekinds „Bismarck“ mit der gedruckten Zueignung „Maximilian Harden in größter Verehrung gewidmet“ [KSA 8, S. 154]; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Maximilian Harden, 28.12.1915. ‒ Wedekinds Verleger schickte ihm am 27.12.1915 die ersten beiden druckfrischen Exemplare und versprach weitere in den nächsten Tagen [vgl. Georg Müller an Wedekind, 27.12.1915] – sie dürften am 28.12.1915 (einen Tag für den Postweg gerechnet) bei ihm eingegangen sein. Sollte er Maximilian Harden eines dieser zwei Exemplare geschickt haben (was anzunehmen ist), dann dürfte dies sofort noch am 28.12.1915 geschehen sein, bevor er abends zu einer zweiwöchigen Gastspielreise nach Budapest aufbrach: „Abends 6 Uhr Abfahrt von München.“ [Tb],
die mich ehrt, über jedes Ihrer herzlichen Worte rechten Ausdruck zu geben, ist
in diesen Tagen innerer und äußerer Wirrniß nicht leicht. Doch was liegt an Worten? Sie wissen, wie ichs meine, wenn ich Ihnen
sage: Ich danke Ihnen.
Ihr Werk ist in tiefem Sinn merkwürdig. Durch die Kargheit,
die doch erkennen läßt, daß sich dahinter schamhaft Reichthum birgt. Als
Versuch, aus Silhouetten ganze Gestalten, in voller Plastik, ahnen zu lassen.
Hinter den Protagonisten die Völker. Nachprüfbare Thatsachen als ein Beet
umrandet, aus dem die Persönlichkeit, mit Farbe und Duft, wächst. Ich sehne
mich, mit Ihnen darüber zu sprechen. Auch über das zarte Band, das aus ihrem
Frühlingstückvon „Frühlings Erwachen“ (1891), von Max Reinhardt (siehe unten) 1906 mit großem Erfolg uraufgeführt. in dieses hineinleitet, mir zu leiten scheint... Wenn Herr Reinhardt
es rasch brächteMax Reinhardt, Direktor des Deutschen Theaters zu Berlin und der Kammerspiele des Deutschen Theaters [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1916, S. 300, 303], nahm „Bismarck“ für das Deutsche Theater an, wie die Presse am 21.1.1916 meldete [vgl. KSA 8, 863], die Inszenierung kam aber nicht zustande, da die Zensur eine Freigabe wieder zurückzog., mit allem Ernst abstimmte, ich glaube: eine sehr starke
Wirkung wäre gewiß.
(Uebrigens möchte ich die WiederaufnahmeNachdem Wedekinds „Simson“ erstmals Anfang 1914 in Berlin am Lessingtheater zu sehen war, wurde das Stück im Sommer 1916 im Rahmen des Wedekind-Zyklus an Max Reinhardts Deutschem Theater erneut aufgeführt (Premiere: 21.6.1916). Ihres Simson jetzt
empfehlen. Herr KayßlerFriedrich Kayßler, Schauspieler am Theater in der Königgrätzer Straße (Direktion: Carl Meinhard und Rudolf Bernauer) in Berlin [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1916, S. 295], hatte in der ersten „Simson“-Inszenierung (Uraufführung: 24.1.1914) am Berliner Lessingtheater die Titelrolle gespielt. ist ja hier thätig; und die so sehr geschätzte Frau
TrieschIrene Triesch, Schauspielerin am Theater in der Königgrätzer Straße (Direktion: Carl Meinhard und Rudolf Bernauer) in Berlin [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1916, S. 295], hatte einmal bei Wedekind angefragt, ob in einem neuen Werk von ihm eine Rolle für sie sei [vgl. Irene Triesch an Wedekind, 22.5.1913]., die mit ihm spielt, würde sich wohl gern der großen Aufgabe annehmen;
die Physis und manches Geistige hat sie dazu. Vielleicht hört manches Ohr erst jetzt recht das schaurige Lied von
blinder Kraft; neben dem AnderenMaximilian Harden meinte mit diesem anderen ‚schaurigen Lied‘ den Krieg, der nun für das Verständnis von Wedekinds „Simson“ sensibilisiere..) |
Was ich thun werde, liegt noch in Dunkel. 23 Jahre und 3
MonateDas erste Heft der Wochenschrift „Die Zukunft“ ist am 1.10.1892 erschienen. Zkft., allein, ohne Hilfe: ganz spüre ichs erst, seit es
vorüber ist. Ob ich „Talent“ zu Anderem habe, muß sich zeigen, nach einiger Ruhe. (Ich hatte nie einen Ferientag,
einen ohne Briefe, Korrekturen, Sorgen fürs nächste Heft.) In Deutschland lebt
sichs nicht schlecht, wenn man mit „Oeffentlichkeit“ nichts zu thun hat;
mindestens mit regirender Gewalt. Auch Sie sind vor solcher Berührung stets in
zornigem Stolz erschauert. Nirgends ist solche Verachtung geistiger
Persönlichkeit. Auch nicht so wonnige Hingebung in Knechtschaft. Die Presse
duldet jetzt nicht den Knebel: sie lutscht an ihm, wie an Süßstoff. Ich bin 13
MonateMaximilian Harden war wegen Majestätsbeleidigung zweimal zu längeren Haftstrafen in der Festung Weichselmünde bei Danzig verurteilt worden; wegen des Artikels „Pudel-Majestät“ [vgl. Die Zukunft, Jg. 6, Nr. 38, 18.6.1898, S. 495-499] verbüßte er sechseinhalb Monate (10.5.1899 bis 24.11.1899), wegen des Artikels „Der Kampf mit dem Drachen“ [vgl. Die Zukunft, Jg. 8, Nr. 45, 11.8.1900, S. 225-236] weitere sechs Monate (20.3.1901 bis 20.9.1901); dazu kamen vierzehn Tage Haft wegen eines Beitrags in der „Zukunft“ vom 16.4.1898, zu der er am 28.4.1898 wegen Verächtlichmachung des Königs Otto von Bayern verurteilt worden ist [vgl. Martin 1996, S. 126]. In seinem Brief an Kurt Tucholsky vom 4.7.1926 erinnerte sich Harden an „12 ½ Monate Festg. Weichselmünde“ [Martin 1996, S. 126]. in 1.eine. Festung gesperrt, mit niederträchtigen ProzessenMaximilian Harden hatte sich außer den drei Prozessen gegen Kuno von Moltke wegen Beleidigung im Zuge der Eulenburg-Affäre in den Jahren 1907 bis 1909 mit weiteren Privatklagen auseinanderzusetzen gehabt; im Brief an Kurt Tucholsky vom 4.7.1926 erinnerte er sich an „7 Anklagen, 3 Verurteilungen“ [Martin 1996, S. 126]. (6!) zermürbt, nun
in hastiger Weise, im Dunkel, erdrosselt wordenAnspielung auf das am 22.12.1915 ergangene Verbot der „Zukunft“ [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 26.12.1915]. Theodor Wolff notierte dazu am 3.1.1916: „Hardens ‚Zukunft‘ ist seit zwei Wochen verboten. Telephonire mit ihm, er bestätigt, daß es sich um ein dauerndes Verbot handele. Ohne jede Motivierung, wegen ‚Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.‘ Biete ihm an, Schritte zu tun, was er mit Dank akzeptirt. Er hat eine Eingabe an den Reichskanzler abgeschickt. – Bin Abends im Klub ‚Gesellschaft von 1914‘, wo ich Deutelmoser treffe u. mit ihm über Harden rede. Er sagt mir, Harden habe ihm geschrieben, er habe sich die Akten geben lassen. Das Verbot müsse natürlich aufgehoben werden. Der Grund des Verbotes liegt vor allem darin, daß die Ententepresse jeden Artikel Hardens gegen Deutschland ausgenutzt hat.“ [Tb Wolff] Und am 6.1.1916 heißt es: „Besuche Hammann im Ausw. Amt, sprechen über Harden. Hammann erklärt das Verbot der ‚Zukunft‘ für eine große Dummheit, der Reichskanzler sei gleichfalls der Meinung, daß es aufgehoben werden müsse, und werde in diesem Sinne interveniren.“ [Tb Wolff]. Das sind meine „BeziehungenMaximilian Harden war mit einer Reihe von Politikern persönlich bekannt.“
zur Staatsgewalt. Da ists nicht immer leicht, Paterjotverballhornt: Patriot. zu bleiben.
Wenn die geistigen Menschen wenigstens zusammenständen. Wie
Seuche aber ists niedergegangen. Man schwatzt bis zum Erbrechen viel, über
politische, wirthschaftliche, finanzielle Folgen des Krieges. Mich bekümmern
die seelischen mehr als alle anderen. Da Sie jetzt so lange mit Bismarck
verkehrt haben, fühlen Sie sicher, wie entsetzt er vor dieser Europa stände. | Als
Leckerbissen des Psychologen schlürfe ich in diesen Tagen das Verhalten manches
noch gestern „Begeisterten“. Wozu sich echauffirensich aufregen.? „Er hat doch kein Blatt
mehrQuelle des Zitats nicht ermittelt (wohl Paraphrase)..“ Der ganze heilsame Ekel an „Journalistik“In den Anfangsjahren der „Zukunft“ hatte Maximilian Harden forciert gegen die Presse polemisiert. packt mich wieder. Viele,
viele Fremde rufen mir Freundliches zu. Aber auch das Andere ist unverlierbar.
Wie undankbar, wie grausig schwer meine Arbeit in diesem
Krieg war, ahnen Wenige. Immer wieder den Menschen, leise, zu sagen, was sie
durchaus nicht hören möchten, sie streichelnd in Erkenntniß zu führen, die sie
scheuen ... Ich las, daß ichs that, um „Geschäfte zu machenQuelle des Zitats nicht ermittelt..“
Einem Lande, das sie, im Zusammenwirken der Gewalten, Hof,
Regirung, Presse, abwehrt, meine Dienste aufzudrängen, liegt meinem Wesen fern.
Ich hoffe, ein paar TageMaximilian Harden schrieb auch Hedwig Pringsheim von seinem Reiseplan, wie aus ihren Briefen an ihn vom 5.1.1916 – „Sie schreiben, daß Sie vielleicht einige Tage in unsere Residenz kommen“ [Neumann 2006, S. 169] – und 12.1.1916 – „Wenn Sie nicht ihren guten Plan ausfüren und nach München kommen, um sich zu erholen“ [Neumann 2006, S. 171] – hervorgeht. Maximilian Harden fuhr nicht nach München. in München zu sein (Vorträge werden
mir nicht mehr erlaubt; Aechtung), das ich so sehr liebe. Dann wollen wir uns
gründlich aussprechen. Ueber Ihr neues Werk zuerst. Das weist in Zukunft; und
ist doch alt-deutsch.
Ich danke Ihnen für das freundschaftliche Gefühl und
erwidere es kräftig. Empfehlen Sie mich, bitte, der holden Frau.
Aus Alledem muß ja, einst, dennoch Gutes werden!?
Herzlichen Handdruck von Ihrem
Harden
Schön ist auch, wie Sie, während die Anderen von Erneuerung,
Verdeutschung der Kunst faselten, in der Stille ein hartes deutsches DramaWedekinds „Bismarck“-Drama ist gemeint, womit Maximilian Harden den Bogen zurückschlägt zum Briefauftakt mit der Widmung an ihn.
fügten.