[1. Brief:]
Nymphenburg, 3.III 1911irrtümlich statt 3.4.1911, dem auf der Beilage richtig vermerkten tatsächlichen Datum.
Sehr geehrter Herr
Wedekind,
inliegend schicke ich Ihnen zugleich mit dem mir
zur Verfügung gestellten Material das gewünschteDen Wunsch nach einem Gutachten zu „Tod und Teufel“ („Totentanz“) dürfte Wedekind geäußert haben, als er Emil Sulger-Gebing am 1.4.1911 in dessen Wohnung im Münchner Stadtteil Nymphenburg (Zuccalistraße 13) aufsuchte, wie er im Tagebuch festhielt: „Besuch bei Prof. Sulger-Gebing in Nymphenburg.“ Grund des Besuchs dürfte die Bitte um eine den Einakter vom Vorwurf der Unsittlichkeit entlastende Stellungnahme gewesen sein. kurze GutachtenWedekind veröffentlichte die Stellungnahme als „Gutachten des Herrn Professor Sulger-Gebing“ zusammen mit seinem Brief an Erich Mühsam vom 16.8.1911 im Beitrag „Aus dem Münchner Zensurbeirat“ im „Kain“ [Jg. 1, Nr. 6, September 1911, S. 94f.]. zu, das ich
genau so gehalten habe, wie ich es getan hätte, wenn ich als MitgliedProf. Dr. Emil Sulger-Gebing, Professor der Literaturgeschichte an der Technischen Hochschule in München, war Mitglied des vom Münchner Polizeipräsidenten Julius von der Heydte im Frühjahr 1908 eingerichteten Zensurbeirats. des
Censurbeirates offiziell dazu aufgefordert worden wäre. Ob es was hilft?
Jedenfalls wünsche ich Ihren Bemühungen, „Tod und Teufel“ hier zur Aufführung
zu bringen, besten Erfolg und verbleibe mit bestem Grusse Ihr ganz ergebener
Emil Sulger-Gebing |
[2.
Beilage:]
Frank Wedekind, Tod und Teufel.
Ein Censur-VerbotGestützt auf die Gutachten des Münchner Zensurbeirats war die Verweigerung einer Aufführung von Wedekinds Einakter „Tod und Teufel“ („Totentanz“) am Münchner Schauspielhaus durch ein erneutes Verbot vom 14.1.1911 bestätigt worden; Wedekind hatte in Erfahrung bringen können, dass nicht alle Mitglieder, darunter Emil Sulger-Gebing, die für das Verbot ausschlaggebende Behauptung, „Totentanz“ sei unsittlich, vorgebracht hatten [vgl. KSA 6, S. 668f.]. erscheint mir, diesem Einakter
gegenüber, nicht gerechtfertigt. Ich halte ihn für undramatisch und darum für
wenig bühnenwirksam, aber nicht für unzüchtig oder sittenverderblich. Die
Personen ergehen sich fast ausschließlich in langatmigen theoretischen
Auseinandersetzungen über die Stellung der Frau zum Manne, Liebesgenuss und
käufliche Liebe. Doch sind diese heikeln Fragen mit Ernst und mit einer fast
trockenen Sachlichkeit behandelt, und so mancher nicht verbotene französische
Schwank bietet dem Publikum weit anfechtbarere, weil durch und durch
leitsinnige Moral; die noch dazu viel verführerischer auftritt. Lässt sich bei
Wedekind der Zuschauer von den theoretischen Auseinandersetzungen fesseln, so
wird er rein intellektuell gefesselt beschäftigt und gelangt über die Personen und ihre
Anschauungen zu der Auffassung, die der Verfasser in den beigelegten
Erläuterungen ausgesprochen hat. Verliert aber der Zuschauer die Geduld, den
Reden aufmerksam zu folgen, so ist auf der Bühne
nichts gegeben, was die Sinnlichkeit reizt, und er wird sich bloss langweilen.
Das einzig Anstössige erscheint mir der Ort, wo das Ganze sich abspielt, das
Bordell. Hier aber hat sich der Verfasser sehr gemässigt ‒ er hat, wie er sich ausdrückt „jede Annäherung
an die Wirklichkeit auf das Sorgfältigste und Gewissenhafteste vermieden“ ‒ und ich | kann desshalb auch darin, besonders im
Hinblick auf so manche von der Censur gestattete Schlafzimmer- und
Entkleidungsszene in französischen Possen, keinen Grund zu einem Verbote
erblicken.
Der Ernst der Behandlung und die Schärfe der
Dialektik stellt Wedekinds „Tod und Teufel“, insbesondere wenn es zusammen mit
dem ebenfalls vorwiegend theoretische Auseinandersetzungen gebenden Einakter „Die
Zensur“ aufgeführt wird, hoch über so manches, was
unbeanstandet über die unsere heutige Bühne geht. Ich sehe desshalb keinen
Grund ein, warum der Dichter nicht mit diesem Einakter auch auf der Bühne zu
Worte kommen sollte.
München, 3. April 1911
Prof Dr Sulger-Gebing