Verehrter Herr Kempner!
Von ganzem Herzen beglückwünsche ich Sie zu dem ruhigen
vornehmen Stil, zu der starken Innerlichkeit, zu der Schärfe Klarheit und
Schönheit Ihres WerkesHanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Eine Studie. Mit einem Bilde Wedekinds. Berlin 1909. Der Band, unter Pseudonym publiziert, ist in der Verlagsbuchhandlung G.m.b.H. Hermann Walther erschienen. Er umfasst 72 Seiten. 1908 war bereits eine kürzere Fassung (Titel: „Frank Wedekind. Eine Studie“) von 48 Seiten herausgekommen (als Band 56 der seit 1906 von Hermann Gräf im Verlag für Literatur, Kunst und Musik in Leipzig herausgegebenen Reihe „Beiträge zur Literaturgeschichte“), zu der Wedekind sich gegenüber seiner Frau im Brief vom 19.8.1908 geäußert hatte. 1911 erschien dann, nun unter dem Namen Hans Kempner, eine nochmals erweiterte Ausgabe (im Verlag Oskar Linser in Berlin-Pankow, als zweite Auflage ausgewiesen, Titel: „Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Eine Studie“), die 94 Seiten umfasst.. Die Tageskritik wird Sie literarisch unter Kuratel
stellen. Sie wird Sie vor der Hand totschweigen oder hämisch mit den Achseln
zucken. Sie werden wenig Dank ernten. Aber wie soll ich mich nun zu Ihrem
Urtheil über mich stellen? Ganz offen gesagt: Ich glaube auch, daß Sie meine/die/
Tragweite meiner Arbeiten überschätzen. Aber meine Arbeiten haben allerdings
meinem Gefühl nach, die Tragweite noch nicht gezeigt, die sie haben könnten.
Deshalb bin ich Ihnen auf jeden Fall zu großem, für mich | kaum zu ermessenden
Dank verpflichtet. Ich habe das Gefühl: Wenn meine bisherigen Arbeiten nicht
etwa hochgeschätzt sondern nur als das was/bis/chen was sie sind richtig
gewürdigt würden, könnte ich unbefangner an neue Arbeiten gehen. In dieser
Hinsicht würde mir Ihr Werk alle Knüppel aus dem Wege räumen, wenn Sie mich
nicht wirklich zu hoch einschätzten, wenn Sie nicht von EwigkeitDas Schlagwort taucht zuerst auf in dem Satz: „Wedekind schafft eine Kunst für die Ewigkeit.“ [Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Berlin 1909, S. 9] Es findet sich danach ähnlich programmatisch an weiteren Stellen über den Band verteilt [vgl. ebd. S. 18, 24, 28, 30, 31, 37, 40]. sprächen.
Dieses Wort ist in Ihrem Buch die Achillesferseder schwache Punkt ‒ dies die Bedeutung der verbreiteten Metapher, abgeleitet aus der griechischen Mythologie (die rechte Verse des Helden Achill war die einzige Stelle, an der er verwundbar war)., an der sich sämmtliche Hunde
festbeißen werden. Ich kann mir wol vorstellen, daß Sie mit vollem Bewußtsein
über das Ziel hinaus geschossen haben. Sie werfen zu meiner Entlastung damit
ein schweres Gewicht in die Wagschale. Aber Ihr Werk wird es büßen. Verzeihen
Sie, daß ich meinen | persönlichen Vortheil so ernsthaft erörtere. Aber meine
künstlerische Freiheit, die Möglichkeit, mich ungehindert entwickeln weiter bilden zu können, nehme ich
allerdings sehr ernst[.] Bei diesem Bestreben unterstützen Sie mich auf Ihre
eigenen Kosten als Freund.
Was soll ich zu dem sagen was Sie auf Seite 66Wedekind dürfte diese Passage gemeint haben: „Wedekind ist ein ganz neuer Menschentypus. Wedekind sieht die Dinge so, wie er sie schildert. Um sie zu verzerren, dazu ist er als Mensch viel zu unbekümmert, ehrlich und treuherzig. Wer ihn kennt, muß ihn lieb haben. Er sagt das Unanständigste mit ruhiger Miene, weil es ihm nicht unsittlich, sondern natürlich klingt. Und so ist er denn vorläufig unser einziger, denn nur so ein Mensch konnte solche Werke schaffen.“ [Hanns Kerr: Frank Wedekind als Mensch und Künstler. Berlin 1909, S. 66] schreiben? Ich
bin stolz darauf. Ich Und
wünsche Ihnen von ganzem Herzen daß Ihnen das Leben gleichen hohen Dank
einbringt.
Mit besten Grüßen auf baldiges WiedersehnEin Wiedersehen ist nicht belegt. Wedekind hatte am 19.8.1908 in Breslau mit Kempner einen Abend verbracht, wie er im Tagebuch festhielt: „Abends mit Hans Kempner (Kerr) im Pilsner Urquell.“ Dieses Treffen erwähnte er am 19.8.1908 auch im Brief an Tilly Wedekind.
Ihr
FrW