München, 7.XI.1900.
Meine theure liebe Freundin!
Herzlichen Dank für Ihre Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 6.11.1900. und für die Empfehlungen.
Ich werde die beiden Damennicht identifiziert; möglicherweise Verwandte von Eva Bonarth (oder eine davon diese selbst) oder von Samuel Bonarth [vgl. Beate Heine an Wedekind, 13.11.1900]. übermorgen, Freitagder 9.11.1900., besuchen. Aber warum schreiben
Sie in so trübem Ton und was haben Sie Schweres erdulden müssen? Ich kann mir
wol vorstellen, daß Sie unter der Aufregung über Carls Geschäfte schwer
gelitten haben. Aber Gott sei Dank steht es ja jetzt ganz vorzüglich um ihn,
sein Unternehmen und seine Zukunft. Ich bitte Sie, die Dinge nicht ernster zu
nehmen als sie thatsächlich sind. Sie werden auch Carl nur dadurch nützen, wenn
Sie etwas vertrauensvoller in die Zukunft sehen. Wenn Sie
kein Vertrauen zu ihm haben, ja, wer in der Welt soll es denn dann haben? Sie
beklagen sich darüber, daß Carl Ihnen Jahre hindurch seine Vermögenslage
verschwiegen. Diese Thatsache wird ihm aber von jedem vernünftigen Manne nur
zur Ehre angerechnet werden. Und dann dürfen Sie nicht vergessen, daß Carl doch
nicht lediglich Künstler, sondern auch Unternehmer ist. Die großen Unternehmer
die ich kenne und die sämmtlich ihr Glück gemacht haben: Maggi, Albert Langen
u. a., haben, bevor sich ihre Schöpfungen rentirten, noch ganz andere Lasten auf
sich nehmen müssen als Carl. Deshalb erblicke ich durchaus keinen Grund zu
einer pessimistischen Auffassung der Situation und Sie könnten Carl eventuell
sogar Nachtheil zufügen, wenn Sie zu düster in die Zukunft schauen. Aber nehmen
Sie mir bitte diese Offenheit nicht übel. Daß die Ereignisse Sie tief
erschüttert haben müssen, um so mehr da Sie gegenwärtig doch sehr einsam leben
und vielleicht auch nicht soviel Gelegenheit finden, Carl zu nützen, wie Sie
gerne möchten, das alles ist mir vollkommen klar. Wie wäre es denn, liebe
Freundin, wenn Sie hierher nach München kämen, vielleicht auch nur für einige
Zeit? Auf das Leben bei Fremden, auf Pensionsleben sind Sie gegenwärtig ja doch
wol schlechterdings angewiesen. Der Kreis, in dem ich mich hier bewege, ist ja
allerdings nicht sehr interessant, aber leichtlebig. Dabei ist es nicht dieses
Junggesellenvolk wie in LeipzigAnspielung auf den geselligen Kreis 1897/98 um die Literarische Gesellschaft in Leipzig, deren Vorsitzender Kurt Martens und deren Schriftführer Hans von Weber war (Carl Heine leitete das Theater der Literarischen Gesellschaft), die jetzt beide in München lebten., sondern meistens verheirathete Leute,
Professoren vom Conservatoriumunklar, welches Konservatorium in München gemeint ist. u. a. u. a. Martens und Weber sehe ich allerdings
nur mehr selten. Ich hege die feste Ueberzeugung, daß einige Wochen oder Monate
Münchner Luft, auch wenn es Hofbräuhausluft wäre, Ihnen besser bekommen würde
als der Aufenthalt in einem Sanatorium. Sie würden schon am zweiten oder
dritten Tag wieder lachen lernen und das ist doch die
wirksamste Medizin die es giebt. Vielleicht wäre es Ihnen auch nicht
unangenehm, möglichst häufig bei mir in meiner kleinen Wohnung zu Gast zu sein.
Mir wäre es jedenfalls eine große Freude. Meine Wohnungseinrichtung ist nämlich
mein Stolz. Ich habe auf dem allerbeschränktesten Raum und mit den
allergeringsten Mitteln Effecte erzielt, über die Jedermann in Staunen geräth.
Aber ich will nicht renommiren. Ich erzähle Ihnen das nur, damit Sie vielleicht
um so eher hierher kommen.
Von meinem Gastspiel in RotterdamWedekind trat am 6.10.1900 in Rotterdam am Großen Schauspielhaus bei einem „Gastspiel des Dr. HEINE-Ensemble“ [Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6919, 6.10.1900, S. (4)] auf, bei dem im Anschluss an Max Halbes „Jugend“ Wedekinds drei Szenen „Der Kammersänger“ aufgeführt wurden und Wedekind in seinem Einakter die Titelrolle des Gerardo spielte; eingeladen dazu habe ihn Carl Heine, wie die niederländische Presse berichtete. Wedekind schrieb seiner Mutter Einzelheiten über dieses für ihn als Schauspieler wichtige Gastspiel [vgl. Frank Wedekind an Emile Wedekind, 10.10.1900]. werden Sie gehört haben.
Die Fahrt war, trotz meines furchtbaren Lampenfiebers wundervoll. Aber ohne
Lampenfieber keine Stimmung. Die Rückreise war natürlich noch angenehmer. Und
dieses Holland! Unsagbar langweilig, eintönig und dabei so schön und
stimmungsvoll. Jeder Ausblick ein Bild!
Augenblicklich thue ich eigentlich, genau genommen, im
Wesentlichen nichts. Ich studire die beiden Rollen in dem Marquis von Keith und
‒ jetzt werden Sie erstaunen, liebe Freundin, ‒ verwende die meiste Zeit des
Tages auf Turnübungen. Diese Uebungen haben allerdings nur den Zweck, mein
Gehen und meine Bewegungen zu verbessern. Aber ich bin in diese Uebungen
geradezu verliebt. So lernt man die schönsten Genüsse des Lebens erst kennen,
wenn man schon beinahe gar keine Zeit mehr übrig hat. Meine Muse scheint sich
mit mir verkracht zu haben. Ich schreibe buchstäblich garnichts und befinde
mich außerordentlich wohl dabei. Ich genieße zum ersten Mal in meinem Leben die
ungeheure Annehmlichkeit, ein ganz gewöhnlicher Mensch zu sein. Damit möchte
ich nicht etwa sagen, daß ich früher was Besseres war; im Gegentheil. Es plagt
mich bei alledem nur die beständige Angst, daß es nicht lange dauert.
Und nun leben Sie wohl, meine liebe Freundin. Schreiben Sie
mir doch bitte wie es ihnen geht. Ich habe ja nicht die geringste Ahnung, was
Sie zu dem Entschluß gebracht hat, ein Sanatorium aufzusuchenHier lag ein Missverständnis vor, wie Beate Heine dann klarstellte [vgl. Beate Heine an Wedekind, 13. und 14.11.1900].. Seien Sie
herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen treu ergebenen
Frank.
Eben fällt mir ein, daß vorgesternam 5.11.1900 (Montag) – Wedekind hat schon im Vorjahr dieses falsche Geburtsdatum Beate Heines angenommen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 27.10.1899]. Beate Heine hatte ihren 41. Geburtstag bereits am 31.10.1900. Ihr Geburtstag war.
Verzeihen Sie mir, aber ich lebe so in den Tag hinein.