München, 5.VIII.1902.
Meine liebe theure Freundin!
Herzlichen Dank für Ihren Geburtstagsbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 23.7.1902. ‒ selbstverständlich der
einzige, den ich erhalten habe. Wenn es mir die Verhältnisse erlaubten, dann
käme ich zu Ihnen nach Tiefenort. So aber bin ich, ohne daß es mir gerade
besonders gut oder schlecht geht, an München gefesselt, besonders in dieser todten
Zeit, wo die Einkünfte spärlich fließen und man daher gut thut, den Quellen
nahe zu bleiben. Meine BücherWedekinds aktuell in Buchausgaben erschienene Stücke „So ist das Leben“ (1902), vor einigen Wochen im Albert Langen Verlag in München herausgekommen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 148, 30.6.1902, S. 5327], und wahrscheinlich „Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen“ (1903), nach dem Erstdruck in der Zeitschrift „Die Insel“ [Jg. 3, Nr. 10, Juli 1902, S. 19-105] im Verlag Die Insel in Leipzig in einer geringen Anzahl von Exemplaren hergestellter Sonderdruck als erste, nichtöffentliche Ausgabe in Buchform [vgl. KSA 3/II, S. 861]. hätten Sie langst erhalten, wenn ich nicht wieder
einmal mit Albert Langen in schweren ConflictenWedekind hatte seit Jahren Konflikte mit seinem Verleger (siehe seine Korrespondenz mit Albert Langen und dem Albert Langen Verlag), zuletzt wegen des Bühnenvertriebs seiner Stücke [vgl. Wedekind an Theaterdirektoren, 4.4.1902]. läge, so daß ich den Verlag
nicht gut besuchen kann. Ich hoffe indessen daß die Spannung in acht bis 14
Tagen überstanden ist. Dann werden Sie die beiden Stücke sofort erhalten. ‒ Sie fragen mich, wie es
mir geht. Darüber weiß man selber eigentlich am allerwenigsten Bescheid.
Jedenfalls geht es mir noch immer nicht so, daß ich schreiben und arbeiten
könnte, was ich gerne wollte und was ich der Welt zu sagen habe. Ich bedauere
es sehr, daß ich Sie in Berlin nicht gesehenBeate Heine war offenbar während Wedekinds Gastspiel vom 14. bis 26.5.1902 in Berlin (siehe unten), zu dem er am 5.5.1902 in der Stadt eintraf [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1902], zu Besuch in Berlin, wie sie Wedekind in ihrem Geburtstagsbrief (siehe oben) geschrieben haben dürfte. habe, aber auch dort war ich meist
in recht misanthropischer Stimmung, denn auch jener Monat Mai, den ich bei
Wolzogen verbrachteWedekind hatte vom 14. bis 26.5.1902 ein Gastspiel an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) in Berlin (Köpenickerstraße 67/68) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269], sein erster Brettlauftritt in der Stadt. Er sprach den Prolog zum „Erdgeist“ und bot zusammen mit Elsa Laura von Wolzogen seinen Dialog „Rabbi Esra“, sang aber nicht, „wie er es sonst pflegt, zu Guitarrenbegleitung eines seiner kecken, prächtigen Lieder“ [Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 242, 15.5.1902, Morgen-Ausgabe, S. (2)]., war weder ein Honig- noch ein Wonne-MondHonigmond = die ersten Wochen nach der Hochzeit, Flitterwochen; Wonnemond = der fünfte Monat des Jahres (Mai). für mich. Mein
einziges Problem war, mich wenigstens nicht öffentlich zu blamiren; ein
hervorragender Erfolg war vor einem Publikum, wie es bei Wolzogen verkehrt, von
vornherein ausgeschlossen. ‒
Armer Wolzogen. Zu allem Unglück kam ich noch gerade in die Zeit, wo er von
seinem eigenen Unternehmen abgesägtErnst von Wolzogen, vom Konkurrenzdruck durch die inzwischen zahlreichen anderen Kabaretts und von der Presse getrieben, trat als Direktor des von ihm begründeten und anfangs erfolgreichen Bunten Theaters (Überbrettl) zurück, erklärte dies auch in einem offenen Brief vom 21.5.1902 an die Presse [vgl. Die Zukunft des „Bunten Theaters“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 252, 21.5.1902, Abend-Ausgabe, S. (2)], um nur noch im Hintergrund als künstlerischer Berater zu wirken; offiziell vertraten ihn Martin Zickel und Marcell Salzer [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269]. „Auf Anraten geschäftstüchtiger Unternehmer hatte Wolzogen das Theater in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Als deren Aufsichtsrat eine Anpassung an den breiten Publikumsgeschmack auf Kosten der literarischen und künstlerischen Qualität durchsetzen konnte, wurde Wolzogen zuerst ‚beurlaubt‘ und schied zu Beginn der Spielzeit1902 ganz aus.“ [Budzinski/Hippen 1996, S. 400f.] wurde. Der Anblick dieses Schauspiels war
ebenso unerquicklich wie mitleiderweckend. So ist es denn mit der ganzen Ueberbrettelei
ungefähr ebenso gegangen wie ich von vornherein voraussah und fürchtete. Ob
sich unsere Elf Scharfrichter im nächsten Winter noch halten werden ist eine
Frage, die sich nur durch das Experiment entscheiden läßt. Immerhin boten sie
mir eine leichte Gelegenheit, den täglichen Unterhalt zu verdienen, ohne mich
dabei allzusehr zu compromittiren. Die größte Freude war mir dabei die
Aufführung meiner „Kaiserin von Neufundland“, natürlich ohne Comparserie und
mit einer von mir selbst zusammengestellten Potpourri-MusikWedekind hatte für die Uraufführung seiner Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) am 12.3.1902 bei den Elf Scharfrichtern in München (Türkenstraße 28), auf seine musikalischen Pläne von 1897 (zur nicht zustande gekommenen Aufführung bei der Literarischen Gesellschaft in Leipzig) zurückgreifend, die dafür notwendigen musikalischen Arrangements festgelegt, die im Notizbuch teilweise in einer Liste zur musikalischen Begleitung zu den Bildern I bis III und Noten erhalten sind [vgl. KSA 3/II, S. 794, 798].. Der Eindruck war
indessen ein vollendet künstlerischer, da die beiden HauptrollenBei der Uraufführung der Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ am 12.3.1902 bei den Elf Scharfrichtern in München (siehe oben) spielte Tilly Brannenburg die Titelrolle „Fillisa XXII., Kaiserin von Neufundland“ und Heinrich Kunolt die männliche Hauptrolle „Eugen Holthoff, der stärkste Mann der Welt“ [Programm Die Elf Scharfrichter, März-April 1902, S. 3]. so gut besetzt
waren, wie ich es mir von keiner großen Bühne besser wünschen könnte.
Demgegenüber nagt ununterbrochen der Kummer über die absolute ErfolglosigkeitWedekind hatte noch immer den Durchfall seines „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 bei der Uraufführung im Residenztheater in Berlin vor Augen.
meines Marquis von Keith an mir, den ich für weitaus das beste halte, was ich
bis jetzt überhaupt geschrieben. Deshalb habe ich mich jetzt auch entschlossen,
ihn zu Beginn der nächsten Saison selber zu spielenWedekind spielte bei der Premiere des „Marquis von Keith“ am Münchner Schauspielhaus am 20.10.1902 (eine geschlossene Vorstellung unter seiner Regie, veranstaltet vom Akademisch-Dramatischen Verein) die Titelrolle. ‒ wo kann ich Ihnen noch nicht verrathen. Es wird ein
Sieg oder eine fürchterliche Niederlage.
Und nun leben Sie wohl, meine theuere verehrte Freundin.
Grüßen Sie Carl aufs herzlichste. Ich sende mit gleicher Post ein Buch an ihnHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 5.8.1902. Das Buch ist nicht ermittelt.,
das ihm einigermaßen bekannt erscheinen wird. Seien Sie selber herzlichst
gegrüßt von Ihrem ergebensten
Frank Wedekind.