Berlin,
15.VII.1897.
Lieber
Freund,
Meine
Baßgeigenin Anlehnung an die Redewendung: Den Himmel voller Baßgeigen sehen (hängen) = sich am Ziel aller Wünsche glauben. sind wieder einmal unter Wimmern und Dröhnen vom Himmel gefallen.
Vorderhand kann ich nicht daran denken, Berlin zu verlassen und nach München
zurückzukehren. Was mir bleibt, ist immerhin eine feste Position zu 200 Mknicht ermittelt.,
aber das ist nicht mehr als das nackte Leben, große Sprünge kann ich mir noch
nicht damit gestatten. Ich habe keine Ursache zu jammern, aber auch gar keine
Ursache zur Freude, zu der in erster Linie unser Wiedersehen gehört hätte. Und
nun eine praktische Frage, die sich mir mit jedem Tage mehr aufdrängt. Dürfte
ich Sie bitten mir mitzutheilen, ob sich von meinen Sachen in München noch
etwas erhalten hat. Ich weiß zu gut, daß sie alle verfallen sind, ausgenommen
die Manuskripte, die schließlich für niemand Werth haben und für mich umso
mehr. Ich habe meiner guten Wirthin, der Mühlberger, auf ihre unzähligen
wohlgemeinten Briefenicht überliefert. Anna Mühlberger war Wedekinds Münchner Zimmerwirtin in der Türkenstraße 69. Weinhöppel hatte das Zimmer während Wedekinds Abwesenheit zeitweise als Unterrichtsraum benutzt [vgl. Wedekinds Briefe an Weinhöppel vom 17.1.1897 und vom 20.1.1897]. nicht geantwortet, weil ich ihr nie etwas zu antworten
hatte. Jetzt habe ich auch nicht viel, aber ich könnte immerhin daran denken,
ein ArrangementLaut seinem polizeilichen Meldebogen wohnte Wedekind vom 14.7. bis 8.10.1898 erneut bei Anna Mühlberger in der Türkenstraße 69. zu treffen. Ich wende mich an Sie mit der Bitte, mich über die
Lage der Dinge orientiren zu wollen, wenn Sie etwas darüber wissen.
Ich
hatte für den Circus Renz eine große Pantomime geschriebenGemeint ist die Pantomime „Bethel“, die zu Wedekinds Lebzeiten weder veröffentlicht noch aufgeführt wurde [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 1.4.1897]., die anfänglich sehr
beifällig aufgenommen wurde. Dann wurde ich zwei Monate hingehalten und nun,
vor vierzehn Tagen, entschließt sich Renz, seinen hiesigen Circus aufzugebenvgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 1.4.1897..
Das ist wirkliches Pech. Denn bei einem dreißig Jahre alten InstitutDer Zirkus Renz existierte von 1842 bis 1897. konnte ich
unmöglich mit der Eventualität rechnen, daß es plötzlich aufhört zu existiren.
Es
bleibt mir nun nichts übrig als mich an seine ConcurrenzOb dies geschah, ist nicht ermittelt. zu wenden, und darüber
kann wieder eine lange Zeit vergehen.
Mein
Pech schmerzt mich nicht in letzter Linie um Fr. St’s (Frida Strindbergs)Ergänzung des Herausgebers im Erstdruck des Briefs.
willen. Ich habe ihr gegenüber niemals Illusionen gehegt und hege sie auch
jetzt nicht, aber umso eher würde ich ihr gerne in einer Lage beistehenAnspielung auf Frida Strindbergs Schwangerschaft. Ihr gemeinsames Kind mit Wedekind, der spätere Journalist Friedrich Strindberg, kam am 21.8.1897 zur Welt und wuchs bei seiner Großmutter mütterlicherseits auf., an der
ich der Mitschuldige bin, wenn ich es nur könnte. Daß sie gegen mich die
Beleidigte spielt, scheint mir angesichts der ernsten Situation kindisch, kann
mich aber nach so vielem Kindischen nicht überraschen.
Auf
Ihre Aeußerungen betreffs der Kaiserin v. N.nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel an Wedekind, 14.7.1897. Die Äußerungen betrafen die von Wedekind gewünschte Vertonung seiner Pantomime durch Weinhöppel, was in dieser Form nicht zustande kam [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 1.4.1897]. kann ich Ihnen schriftlich nicht
antworten, da ich zu sehr das Bedürfnis fühle, mündlich mit Ihnen darüber zu
verhandeln. Vielleicht trifft doch noch eine günstige Wendung ein. Es wäre die
größte Freude, die mir widerfahren könnte.
Grüßen
Sie Herrn und Frau Dressler bitte aufs herzlichste. Mit den besten Grüßen und
Wünschen für Ihr Wohlergehen Ihr
Frank
Wedekind.