Dresden, 8.X.1897.
Lieber Freund,
ich schreibe Ihnen in größter Eile. Ich bemerke es im Voraus,
damit Sie trotz Ihres Briefesnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel an Wedekind, 7.10.1897. und Ihrer Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel an Wedekind, 7.10.1897. mich nicht verurtheilen. Ich
liege gerade in den letzten Zügen mit einem EinacterWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (ursprünglicher Titel „Das Gastspiel“) entstand zwischen August und Oktober 1897 in Dresden. Die erste Buchausgabe im Verlag von Albert Langen (München), für die Wedekind nach dem vorliegenden Brief an Weinhöppel bereits einen Vorschuss erhalten hatte, erschien erst im März 1899 [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 57, 10.3.1899, S. 1886]. , den ich noch für so und
so viel Geld, das ich in der Tasche habe, fertig stellen muß, da ich nachher
keins mehr zu dem Zwecke bekomme. Aber in einigen Tagen bin ich frei. Es thut
mir weh zu hören, daß es Ihnen nicht besser geht als mir. Lassen Sie aber doch
den Muth nicht sinken. Ich denke sehr viel an Sie. Aber was soll ich thun,
solange ich selber noch beide Hände gefesselt habe. Gegenwärtig esse ich nun
das Gnadenbrod hier bei meiner SchwesterWedekind hatte Berlin um den 15.8.1897 in Richtung Dresden verlassen, wo seine Schwester, die Sängerin Erika Wedekind als Solistin an der Hofoper engagiert war. In Dresden wohnte Wedekind in den folgenden Monaten zur Untermiete in der Walpurgisstraße 14/II, also nicht – wie der vorliegende Brief nahelegt – in der Wohnung seiner Schwester (Struvestraße 34/III). Das hätte mich nicht gehindert, alles
bei ihr einzusetzen, daß sie Ihre Lieder singtWelche Lieder gemeint sind, ist nicht ermittelt. Weinhöppel trat ab 1892 mit zahlreichen Liedkompositionen für Solostimme nach Textvorlagen klassischer und zeitgenössischer Lyrik (z. B. von Heinrich Heine, Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel und Detlev von Liliencron) hervor. Da Einzeldrucke seiner Lieder erst ab 1902 nachweisbar sind, [vgl. Kemp 2017, S. 181] ist anzunehmen, dass Erika Wedekind im Besitz autographer Notenauszüge der Lieder war., wenn Sie nur gekommen wärenBereits in seinem Brief an Weinhöppel vom 17.1.1897 hatte Wedekind ein Zusammentreffen in Dresden angeregt..
Ich hatte mich wirklich sehr darauf gefreut. Aber auch so werde ich sie bei der
ersten Gelegenheit bearbeiten, denn soviel ich weiß hat sie ja Ihre Lieder.
Nach München zu kommen ist mir jetzt im Augenblick ganz unmöglich.
Aber schreiben Sie mir doch bald, was Sie auf dem Herzen haben. In 14 Tagen
kommt in Berlin eine ComödieWedekinds Lustspiel „Die junge Welt“, eine stark überarbeitete Fassung seines Stücks „Kinder und Narren“ (1891), mit der er bereits 1895 begonnen hatte, erschien Ende Oktober 1897 im Verlag von W. Pauli’s Nachf. (H. Jerosch; Berlin) [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 248, 25.10.1897, S. 7743]. Die Uraufführung fand erst am 22.4.1908 am Münchner Schauspielhaus statt. von mir heraus, d. h. nur im Buchhandel. Und dann
kommt der Einacter, das sind meine Hoffnungen. Aber wie tief ich wieder in
WeiberconflictenNachdem er sich im Frühjahr 1897 von seiner schwangeren Freundin Frida Strindberg getrennt hatte, ging Wedekind im Sommer 1897 in Berlin eine Liebesbeziehung mit Julie Rickelt ein, der Frau des Regisseurs Gustav Rickelt. Zur Vermeidung eines Skandals hatte Wedekind Berlin Mitte August 1897 verlassen, die Beziehung aber auch in Dresden fortgesetzt, wo ihn Rickelt Anfang Oktober besuchte. Züge Rickelts gingen in die Figur der Helene Marlowa in Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (1897) ein [vgl. KSA 4, S. 362f.; vgl. außerdem die Briefe von Julie Rickelt an Wedekind von Ende August bis Ende Oktober 1897]. stecke, das kann ich Ihnen hier gar nicht so rasch
auseinandersetzen. Also bitte schreiben Sie mir und seien Sie nicht böse Ihrem
treuen Freund
Frank Wedekind.
Ich kann das leere Papier doch nicht unbeschrieben lassen. Was ist
denn mit Athennicht ermittelt. Bezieht sich vermutlich auf eine berufliche Option, die Weinhöppel in der oben erwähnten, nicht überlieferten Korrespondenz an Wedekind angesprochen hatte.? Wie ich Sie verstehe, ist nichts daraus geworden. Aber mir ist
es ja mit all meinen Unternehmungen bisher nicht besser gegangen. Und dann höre
ich, daß Sie wieder in Paris vermutlich zwischen Mitte Juli und Ende September 1897. 1892 hatten Weinhöppel und Wedekind längere Zeit gemeinsam in Paris verbracht.waren. Lassen Sie nur um Gottes willen nicht
wieder den Kopf sinken, wie in AmerikaWeinhöppel war von Ende 1892 bis Sommer 1896 als Kapellmeister und/oder Chordirigent am French Opera House in New Oleans (Louisiana) engagiert. Nähere Einzelheiten zu dieser Lebensphase sind bisher nicht ermittelt [vgl. jedoch Kemp 2017, S. 174f.].. Vielleicht kommen Sie hierher. Zu Zweit
läßt sich eventuell mehr machen; denken Sie an unsere glorreichen Tage in
MünchenGemeint ist vermutlich die Zeit unmittelbar nach Weinhöppels Rückkehr aus den USA im Sommer 1896.. Und dann die Luftveränderung. Sie sind mir sehrwillkommen. Nur etwas: Geld kann ich Ihnen nicht anbieten, so sehr ich ihr
Schuldner bin. Seien Sie durch meine Offenheit bitte nicht beleidigt. Sie
wissen wie ich es meine. Es ist ja trauriger für mich als für Sie. Aber wenn
ich Ihnen trotzdem etwas sein kann, dann kommen Sie. Auf jeden Fall würden wir
uns gegenseitig auffrischen.