Verehrte große KünstlerinTilly Newes, Wedekinds spätere Ehefrau; er hatte die junge Schauspielerin bei der von Karl Kraus veranstalteten Wiener Premiere seiner dreiaktigen Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (Regie: Albert Heine) kennengelernt, die am 29.5.1905 in geschlossener Vorstellung „auf der Bühne des Trianon-Theaters im Nestroyhof“ stattfand, „das Kraus für diesen Zweck gemietet hatte“ [Nottscheid 2008, S. 141]. Die 19jährige Schauspielerin Tilly Newes spielte die Hauptrolle der Lulu, der 40jährige Frank Wedekind die Rolle des Mörders Jack. Die Generalprobe fand Wedekinds Tagebuch zufolge am 28.5.1905 statt („Generalprobe“), nach der Vorstellung am 29.5.1905 saß Wedekind beim Premierenessen zwischen seiner Verlobten Berthe Marie Denk und Tilly Newes („Vorstellung. Büchse der Pandora. Ich spiele Jack. Souper im Hotel Continental. Zwischen Marie Denk und Ottilie Newes“).!
Entzückendes Menschenkind!
ich habe Dir so unendlich viel zu danken, daß ich vergebens nach
den treffenden Worten suche. Aber ich muß Dir sagen, wie hoch ich mich beglückt
fühle, daß ich dich sehen und Dich kennen lernen durfte. Daß das PublikumAuf dem Theaterzettel zur Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ im Trianon-Theater am 29.5.1905 ist vermerkt (Faksimile in der „Fackel“): „Die Vorstellung findet vor geladenem Publikum statt.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 182; Original: KHM-Museumsverband, Theatermuseum in Wien; URL: https://www.theatermuseum.at/online-sammlung/detail/81328/] mein
abscheuliches Stück ohne Dein kluges und zugleich | so madonnenhaftes Spiel
nicht so geduldig hingenommen hätte, darüber besteht für mich nicht der
geringste Zweifel. Aber davon hast Du ja nichts. Ich habe zu meinem Bedauern
bis jetzt noch keinerlei BesprechungDie Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ am 29.5.1905 wurde kaum besprochen, die „Wiener Theaterkritik schwieg sich weitgehend über dieses Theaterereignis aus“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 39]. Theodor Antropp hat die Inszenierung am 31.5.1905 im „Wiener Deutschen Tagblatt“ besprochen [vgl. KSA 3/II, S. 1258], eine weitere Besprechung in ähnlicher Tonart findet sich am Tag zuvor im „Deutschen Volksblatt“ [vgl. ‒r.: „Die Büchse der Pandora.“ (Erstaufführung in Wien am 29. Mai 1905.) In: Deutsches Volksblatt, Jg. 27, Nr. 5893, 30.5.1905, Morgen-Ausgabe, S. 1f.] – beide Wedekinds Tragödie ablehnend; nicht so im „Berliner Tageblatt“, dessen Wiener Korrespondent lobende Worte fand [vgl. Eine Aufführung von Wedekinds „Büchse der Pandora“ in Wien. In: Berliner Tageblatt, Jg. 34, Nr. 275, 31.5.1905, Morgenblatt, 1. Beiblatt, S. (2)]. Diese drei Besprechungen und eine weitere Rezension – am 4.6.1905 im „Neuen Pester Journal“ – hat Karl Kraus nachgewiesen und aus den Artikeln zitiert [vgl. Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 17f.]. Karl Kraus meinte allerdings über die Presseresonanz der Premiere: „Die Wiener Groß-Presse hat ein Ereignis, das in literarischer, theatralischer und gesellschaftlicher Beziehung wohl die stärkste ‚Sensation‘ war, die sich seit langem auf einer deutschen Bühne abgespielt hat, glattweg unterschlagen.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 183/184, 4.7.1905, S. 45] über die Aufführung zu Gesicht bekommen. Und
doch wünschte ich so sehr daß Dir Deine herrliche Leistung an jenem Abend zum
Glück gereichen möchte. Ich kann mich auch gar nicht in den Gedanken finden,
daß wir uns zum | ersten und letzten Mal gesehen haben sollten. Ich wünsche Dir
von ganzem Herzen die höchsten
künstlerischen Erfolge und Triumphe, die einem Menschenkinde beschieden sein
können.
Und nachdem ich Dir so tief verschuldet, wage ich nun sogar noch
eine Bitte. Aber mißversteh mich darin nicht. Ich gehe nicht darauf aus, Kunst-Trophäen zu sammeln. Ich habe noch kaum eine
Künstlerin um dieses Geschenk gebeten. Es thäte mir aber un|lichSchreibversehen, statt: unendlich. weh, Dein
süßes Bild, wie Du im zweiten Akt erschienst, mit der Zeit aus dem Gedächtnis
verlieren zu müssen. Hast Du nicht vielleicht eine
AufnahmeEine Fotografie, auf der Tilly Newes das genannte Kleid im 2. Akt der „Büchse der Pandora“ trägt, ist überliefert; Bildunterschrift: „Tilly Newes als Lulu / Büchse der Pandora II. Wien 1905“ [Kutscher 2, vor S. 161]. von Dir in dem KleideLulu im 2. Akt der „Büchse der Pandora“ (1903) „trägt eine weiße Directoirerobe mit mächtigen Puffärmeln und einer vom oberen Taillensaum frei auf die Füße fallenden weißen Spitze; die Arme in weißen Glacés, das Haar hochfrisiert mit einem kleinen weißen Federbusch.“ [KSA 3/I, S. 497] das du im zweiten Akt trugst? Wenn Du eines hast,
dann weißt Du, wenn wen Du sehr glücklich damit machen könntest. – – Ich
bitte Dich, IhnAnspielung auf den Schriftsteller Paul Eger, den „damaligen Liebhaber“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 39] oder Verlobten von Tilly Newes. aufs beste von mir zu grüßen. Die Gefühle des Neides
kommen nicht auf. Dazu habe ich Dich zu lieb. Dafür bleibe ich aber auf ewig
in Dankbarkeit ergeben
Dein Bewundrer und Verehrer
Frank Wedekind.
München, Franz Josefstraße 42.
4.VI 5.