Kennung: 2724

München, 4. Juni 1905 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly

Inhalt

Verehrte große KünstlerinTilly Newes, Wedekinds spätere Ehefrau; er hatte die junge Schauspielerin bei der von Karl Kraus veranstalteten Wiener Premiere seiner dreiaktigen Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (Regie: Albert Heine) kennengelernt, die am 29.5.1905 in geschlossener Vorstellung „auf der Bühne des Trianon-Theaters im Nestroyhof“ stattfand, „das Kraus für diesen Zweck gemietet hatte“ [Nottscheid 2008, S. 141]. Die 19jährige Schauspielerin Tilly Newes spielte die Hauptrolle der Lulu, der 40jährige Frank Wedekind die Rolle des Mörders Jack. Die Generalprobe fand Wedekinds Tagebuch zufolge am 28.5.1905 statt („Generalprobe“), nach der Vorstellung am 29.5.1905 saß Wedekind beim Premierenessen zwischen seiner Verlobten Berthe Marie Denk und Tilly Newes („Vorstellung. Büchse der Pandora. Ich spiele Jack. Souper im Hotel Continental. Zwischen Marie Denk und Ottilie Newes“).!

Entzückendes Menschenkind!

ich habe Dir so unendlich viel zu danken, daß ich vergebens nach den treffenden Worten suche. Aber ich muß Dir sagen, wie hoch ich mich beglückt fühle, daß ich dich sehen und Dich kennen lernen durfte. Daß das PublikumAuf dem Theaterzettel zur Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ im Trianon-Theater am 29.5.1905 ist vermerkt (Faksimile in der „Fackel“): „Die Vorstellung findet vor geladenem Publikum statt.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 182; Original: KHM-Museumsverband, Theatermuseum in Wien; URL: https://www.theatermuseum.at/online-sammlung/detail/81328/] mein abscheuliches Stück ohne Dein kluges und zugleich | so madonnenhaftes Spiel nicht so geduldig hingenommen hätte, darüber besteht für mich nicht der geringste Zweifel. Aber davon hast Du ja nichts. Ich habe zu meinem Bedauern bis jetzt noch keinerlei BesprechungDie Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ am 29.5.1905 wurde kaum besprochen, die „Wiener Theaterkritik schwieg sich weitgehend über dieses Theaterereignis aus“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 39]. Theodor Antropp hat die Inszenierung am 31.5.1905 im „Wiener Deutschen Tagblatt“ besprochen [vgl. KSA 3/II, S. 1258], eine weitere Besprechung in ähnlicher Tonart findet sich am Tag zuvor im „Deutschen Volksblatt“ [vgl. ‒r.: „Die Büchse der Pandora.“ (Erstaufführung in Wien am 29. Mai 1905.) In: Deutsches Volksblatt, Jg. 27, Nr. 5893, 30.5.1905, Morgen-Ausgabe, S. 1f.] – beide Wedekinds Tragödie ablehnend; nicht so im „Berliner Tageblatt“, dessen Wiener Korrespondent lobende Worte fand [vgl. Eine Aufführung von Wedekinds „Büchse der Pandora“ in Wien. In: Berliner Tageblatt, Jg. 34, Nr. 275, 31.5.1905, Morgenblatt, 1. Beiblatt, S. (2)]. Diese drei Besprechungen und eine weitere Rezension – am 4.6.1905 im „Neuen Pester Journal“ – hat Karl Kraus nachgewiesen und aus den Artikeln zitiert [vgl. Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 17f.]. Karl Kraus meinte allerdings über die Presseresonanz der Premiere: „Die Wiener Groß-Presse hat ein Ereignis, das in literarischer, theatralischer und gesellschaftlicher Beziehung wohl die stärkste ‚Sensation‘ war, die sich seit langem auf einer deutschen Bühne abgespielt hat, glattweg unterschlagen.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 183/184, 4.7.1905, S. 45] über die Aufführung zu Gesicht bekommen. Und doch wünschte ich so sehr daß Dir Deine herrliche Leistung an jenem Abend zum Glück gereichen möchte. Ich kann mich auch gar nicht in den Gedanken finden, daß wir uns zum | ersten und letzten Mal gesehen haben sollten. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen die höchsten künstlerischen Erfolge und Triumphe, die einem Menschenkinde beschieden sein können.

Und nachdem ich Dir so tief verschuldet, wage ich nun sogar noch eine Bitte. Aber mißversteh mich darin nicht. Ich gehe nicht darauf aus, Kunst-Trophäen zu sammeln. Ich habe noch kaum eine Künstlerin um dieses Geschenk gebeten. Es thäte mir aber un|lichSchreibversehen, statt: unendlich. weh, Dein süßes Bild, wie Du im zweiten Akt erschienst, mit der Zeit aus dem Gedächtnis verlieren zu müssen. Hast Du nicht vielleicht eine AufnahmeEine Fotografie, auf der Tilly Newes das genannte Kleid im 2. Akt der „Büchse der Pandora“ trägt, ist überliefert; Bildunterschrift: „Tilly Newes als Lulu / Büchse der Pandora II. Wien 1905“ [Kutscher 2, vor S. 161]. von Dir in dem KleideLulu im 2. Akt der „Büchse der Pandora“ (1903) „trägt eine weiße Directoirerobe mit mächtigen Puffärmeln und einer vom oberen Taillensaum frei auf die Füße fallenden weißen Spitze; die Arme in weißen Glacés, das Haar hochfrisiert mit einem kleinen weißen Federbusch.“ [KSA 3/I, S. 497] das du im zweiten Akt trugst? Wenn Du eines hast, dann weißt Du, wenn wen Du sehr glücklich damit machen könntest. – – Ich bitte Dich, IhnAnspielung auf den Schriftsteller Paul Eger, den „damaligen Liebhaber“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 39] oder Verlobten von Tilly Newes. aufs beste von mir zu grüßen. Die Gefühle des Neides kommen nicht auf. Dazu habe ich Dich zu lieb. Dafür bleibe ich aber auf ewig
in Dankbarkeit ergeben
Dein Bewundrer und Verehrer
Frank Wedekind.


München, Franz Josefstraße 42.

4.VI 5.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13 x 17 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 1 oben rechts ist von fremder Hand (Fritz Strich?) mit Kopierstift eine unterstrichene Ziffer („1.“) notiert, außerdem sind auf Seite 4 drei Sätze mit Buntstift („Ich bitte Dich“ bis „Dich zu lieb.“) eingeklammert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    4. Juni 1905 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Wien
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
143-144
Briefnummer:
246
Kommentar:
Im Erstdruck sind drei Sätze ausgelassen (die drei in der Handschrift von fremder Hand mit Bleistift eingeklammerten Sätze) und durch drei Gedankenstriche ersetzt. Fritz Strich hat vor den gedruckten Brief das Faksimile des handschriftlichen Briefs eingeheftet, in dem die drei Sätze wegretuschiert sind (kaum sichtbar, da der an diese Sätze anschließende Text nach oben gezogen wurde); Seite 4 des Faksimiles ist mit dem Aufdruck versehen: „Faksimile des Briefes Nr. 246.“ Die Auslassung erfolgte „auf Veranlassung Tilly Wedekinds“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 39]. Sie wies in ihren Erinnerungen darauf hin, nannte ihren damaligen Verlobten Paul Eger und schrieb über den ersten Brief, den ihr zukünftiger Ehemann ihr geschrieben hat: „In einer zweibändigen Ausgabe der Briefe Frank Wedekinds, die Fritz Strich herausgegeben hat, wurde später dieser Brief im Facsimile reproduziert. Ich bat aber Strich, den Satz, der Paul betraf, zu entfernen, denn damals lebte Paul noch“ [Wedekind 1969, S. 48]. Tilly Wedekind selbst hat den Brief mit der Auslassung wie im Erstdruck in Ihren Erinnerungen zitiert [vgl. Wedekind 1969, S. 46]. ‒ Neuedition: Vinçon 2018, Bd. 1, S. 7-11 (Nr. 1). Mit Faksimile.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 320
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 4.6.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (11.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

31.08.2023 11:10