Kennung: 3062

München, 26. September 1907 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly

Inhalt

Geliebte Tilly!

inliegend sende ich Dir M. 300Wedekind hielt am 26.9.1907 im Tagebuch fest: „Schicke an Tilly nach Lenzburg M. 300.“ Die 300 Mark waren für ihre Fahrkarten nach Berlin bestimmt.. Das BilletFahrkarte. BaselBerlin kostet einschließlich Schlafwagen zweiter Klasse 56 M. Das wäre für zwei Personen 112 M. Übrigens kommt mir die Summe etwas klein vor. Es ist möglich daß man sich auf dem Reisebureau geirrt hat und daß dies der Preis für 3. Klasse ist. Auf jeden Fall wirst du genug haben. | Vergiß nicht dem Mädchen zu Hause ein anständiges Trinkgeld zu geben. Man ist in dieser Beziehung von Mieze her sehr verwöhnt. Ich habe deine Gründevgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 23.9.1907. eingesehen und halte es auch für praktischer wenn Du direkt fährst. Ich selber kann den Tag meines Dortseins nicht genau bestimmen, deshalb wollen wir uns nicht von einander abhängig machen.

Eben war ich wieder beim PaterWedekind notierte am 26.9.1907 seinen letzten Besuch bei Pater Dr. Expeditus Schmidt (Carl Hermann Schmidt) im Franziskanerkloster St. Anna, um sich bei ihm für die Ausgestaltung der 2. Szene seines Einakters „Die Zensur“ (Arbeitstitel: „Das Kostüm“) zu beraten: „Besuch bei Pater Expeditus in seiner Zelle.“ [Tb] Der Pater „diente Wedekind als Gesprächspartner bei der Arbeit an der 2. Szene des Einakters“ und zugleich „als Modell für die Figur des Dr. Prantl im selben Einakter“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 70]. in seiner Zelle. Er läßt deine Grüße F/f/reundlichst erwidern. Selbstverständlich hat er mir ein Dramanicht ermittelt; Pater Dr. Expeditus Schmidt hatte mit der Dissertation „Die Bühnenverhältnisse des deutschen Schuldramas und seiner volkstümlichen Ableger im sechzehnten Jahrhundert“ (1903) in München promoviert, Theaterstücke von ihm sind aber nicht bekannt [vgl. Vinçon 2018, Bd. 2, S. 69f.]. Im Herbst 1907 hat er die zweibändige Auswahlausgabe „Lustiges Komödienbüchlein“ (Komödien von Franz von Pocci) im Insel-Verlag mitherausgegeben [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 74, Nr. 267, 15.11.1907, S. 12241]. mitgegeben, das Reinhart | aufführen soll. Religiös steht er natürlich auf demselben Standpunkt wie ich, d. h. er glaubt an nichts. Umso eingehender kann man daher über Religion sprechen.

Ich danke Dir herzlich für deinen lieben Briefvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 23.9.1907. und für die Kartevgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 24.9.1907 (Postkarte). die ich gestern erhielt. Hoffentlich geht es Euch gut. Gestern Abend war PremiereWedekind notierte am 25.9.1907: „Premiere von Iphigenie.“ [Tb] Die Premierenvorstellung von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ am Münchner Schauspielhaus unter der Regie von Georg Stollberg begann um 19.30 Uhr, Ende war 22 Uhr, in der Titelrolle: „Klara Rabitow als Gast.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 60, Nr. 449, 25.9.1907, Generalanzeiger, S. 2] Clara Rabitow (siehe unten) war verheiratet mit Albert Heine (siehe unten). von Iphigenie. Auf der GeneralprobeWedekind notierte am 24.9.1907: „Generalprobe von Iphigenie.“ [Tb] hatte Max Halbe einen Krach mit Frau StollbergGrete Stollberg, Schriftstellerin und Gattin von Georg Stollberg, Direktor des Münchner Schauspielhauses. bekommen. Die Aufführung war ein starker ErfolgHanns von Gumppenberg meinte: „Im Schauspielhause hatte die von Direktor Stollberg inszenierte erste Aufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris mit Klara Rabitow in der Titelrolle starken und wohlverdienten Erfolg“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 60, Nr. 451, 26.9.1907, Morgenblatt, S. 2]; er würdigte die Premiere dann ausführlich: „Das scheinbar so kühne Experiment, die klassische Bühnendichtung großen Stils ins hochmoderne Schauspielhaus zu verpflanzen, und zwar gleich mit einem allerklassischsten Werke, mit Goethes Iphigenie, ist gestern über jedes Erwarten geglückt [...]. In der richtigen Erkenntnis, daß sich kein derzeitiges Mitglied des Schauspielhaus-Ensembles ganz für die Hauptrolle eignen würde, hat die Direktion Klara Rabitow, das hervorragend begabte frühere Mitglied unseres Hofschauspiels und des Wiener Burgtheaters, für diese Aufgabe gewonnen [...]. Die Leistung der Frau Rabitow verdient [...] vollste und freudigste Anerkennung: das war endlich einmal eine nicht bloß deklamierende, sondern ihre Konflikte wirklich durchlebende Iphigenie; warmblütig und menschlich unmittelbar in allen Momenten der seelischen Entwicklung, brachte sie das Ideale der Gestalt dadurch nur umso eindringlicher zur Geltung: ihr gebührt die Hauptehre des Abends. [...] Das Haus war nicht eben glänzend besucht, der Beifall aber nach allen Akten von überzeugter Stärke; zuletzt wurden Frau Rabitow, die auch eine schöne Blumenspende erhielt, und den übrigen Darstellern lebhafte Ovationen bereitet.“ [H.v.G.: Iphigenie im Schauspielhaus. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 60, Nr. 452, 27.9.1907, Vorabendblatt, S. 2] für die Rabitow. Nach der Aufführung arbeitete ich bis ein Uhr und | traf dann in später StundeWedekind notierte am 25.9.1907: „Premiere von Iphigenie. Dann im Hofbräuhaus gearbeitet. Mit Heine und Fridel in der Bar.“ [Tb] Er hat nach der Premiere von Goethes Schauspiel also bis 1 Uhr nachts an seinem Einakter gearbeitet und wechselte dann das Lokal; er ging in die American Bar (Maximilianstraße 4), wo er Albert Heine traf, den Ehemann der Schauspielerin Clara Rabitow (siehe oben) und Regisseur am Münchner Hoftheater [vgl. Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 199], der bei der Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ am 29.5.1905 die Regie geführt und die Rolle des Schigolch gespielt hat, sowie Egon Friedell, der bei der Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ den Polizeikommissär spielte [vgl. KSA 3/I, S. 548]. Albert Heine mit Egon Fridell allein in der Amerikan Bar sitzenwohl Schreibversehen, statt: sitzend.. Sonst bin ich, das darf ich wohl sagen nicht mit viel Menschen zusammen gewesen. Einmal mit Fritz Schwarz und BasilWedekind notierte am 17.9.1907 sein Treffen mit Fritz Schwartz (genannt: Nero) und Fritz Basil in der Odeon Bar (Briennerstraße 4): „In der Odeonsbar treffe ich Basil und Nero.“ [Tb] und einmal mit Rung und dem Dr. KleinWedekind notierte am 21.9.1907: „Nachts in der Odeonsbar mit Runge und Dr. Klein.“ [Tb] Er traf in der Odeon Bar (Briennerstraße 4) also Woldemar Runge, Regisseur am Münchner Hoftheater [vgl. Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 455], und möglicherweise Tim Klein [vgl. Vinçon 2018, Bd. 2, S. 70], was aber unsicher ist; Dr. phil. Tim Klein wurde zwar 1902 in München promoviert, war dann aber seit 1903 in Straßburg als Lehrer tätig, unklar, wie lange (er hielt nachweislich erst ab 1909 in München Vorträge und war erst ab 1918 als Theaterkritiker der „Münchner Neuesten Nachrichten“ tätig) – eine Verwandtschaft mit Emmy Loewenfeld (geb. Wolff) in Berlin darf bezweifelt werden., Neffen der Frau Löwenfeld in der Odeonsbar. Mit der ArbeitWedekind arbeitete an der 2. Szene seines Einakters „Die Zensur“ – nun wohl schon unter diesem Titel, den er erstmals am 27.9.1907 notierte: „An Censur gearbeitet“ [Tb]. geht es jetzt langsamer. Aber ich komme immerhin vorwärts. Imm Das Schwierigste liegt hinter mir, und ich weiß dasSchreibversehen, statt: daß. ich nichts geschrieben habe, woran Du nicht Deine Freude haben wirst. In Hamburg bewerben sich Berger und | ThaliatheaterAlfred von Berger war Direktor des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 397] und hatte an einer von Karl Kraus angeregten Neuinszenierung der „Büchse der Pandora“ unter seiner Regie Interesse [vgl. Nottscheid 2008, S. 275-280], ebenso das Thalia-Theater (Direktion: Max Bachur) in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 400], von dessen Interesse an seiner Tragödie Wedekind seiner Frau berichtet hatte [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 15.9.1907]. um Pandora. Davon daß ich mitspielen sollte ist nicht die Rede. Wozu auch. Wir haben andere Dinge, die wichtiger sind zu spielen. Ich habe mir bei Mück noch den ZaubertalarFritz Schwigerling in Wedekinds Schwank „Der Liebestrank“ (1899) trägt bei der Zubereitung des Zaubertranks für den Fürsten Rogoschin (2. Aufzug, 4. Auftritt) einen „Talar“ [KSA 2, S. 403], ein Requisit, das der Münchner Kostümschneider Johann Nepomuk Mück im Auftrag Wedekinds neu hergestellt hat. für Liebestrank machen lassen.

Geliebte Tilly, es lassen Dich eine Unmenge Menschen grüßen, jeder dem ich begegne. Neulich sagte mir Herr Bardou-MüllerMax Bardou, „Privatier“ [Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 21], war mit der Schauspielerin Ida Bardou-Müller verheiratet (vor der Heirat: Ida Müller), die am Münchner Schauspielhaus tätig war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 491] und bei der Uraufführung von „Hidalla“ am 18.2.1905 die Rolle der Berta gespielt hat [vgl. Vinçon 2018, Bd. 2, S. 71]., daß er eifersüchtig auf Dich sei, weil seine Frau Dich so tief in ihr Herz geschlossen habe. Aber | das wird Dich nicht so sehr interessieren. Über Marquis Keith in Berlin hörte ich nichts mehr seit meiner Weigerung vor acht Tagenam 18.9.1907, genau gerechnet (es geht um die geplante Neuinszenierung des „Marquis von Keith“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu Berlin, über die Wedekind mit dem Dramaturgen Felix Hollaender verhandelte und deren Premiere am 9.11.1907 stattfand) – Hinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Felix Hollaender, 18.9.1907. „Ein schriftlicher Bescheid Wedekinds an die Berliner Kammerspiele [...] ist nicht nachweisbar.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 71] zur Probe zu kommen. Ich denke sie werden die Proben aufgeschoben haben.

Hoffentlich ist bei Euch alles wohl. Grüße Anna Pamela der ich für ihre Zeilenvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 23.9.1907 (mit Grußzeilen von Pamela Wedekind). danken lasse, sowie Mama und Mati und sei selber herzlich gegrüßt und geküßt
von Deinem getreuen
Frank


26.9.7.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 16,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    26. September 1907 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
193-194
Briefnummer:
301
Kommentar:
Im Erstdruck des Briefs sind drei Passagen mit Auslassungsstrichen markiert nicht abgedruckt (der erste Briefabsatz, „d. h.“ bis „an nichts.“ „Einmal mit“ bis „Odeonsbar.“) ‒ Neuedition: Vinçon 2018, Bd. 1, S. 74-75 (Nr. 86).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 320
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 26.9.1907. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (11.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

02.04.2024 19:08