Kennung: 3926

München, 21. April 1916 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Tilly

Koautoren*in

  • Wedekind, Pamela

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Freitagder 21.4.1916. Mittag.


Mein innigst Geliebter!

Heute kam keine 2. Post. So habe ich keine Nachricht von Dir. So ein Tag ist für mich nur ein halber.

Gestern AbendTilly Wedekind war am 20.4.1916 in ihrer Wohnung in der Prinzregentenstraße 50 (3. Stock) Gastgeberin von Lida von Wedell und ihrer Mutter Katharina Weimann sowie von Erna und Ludwig Pariser und ihrer Tochter Agnes Therese Pariser. kamen Fr. B. Wedell mit ihrer Mutter, Herr u. Frau Dr. Pariser u. Agnes zu mir zum Thee um ½ 9 Uhrum 20.30 Uhr.. Es war ein selten angenehmer u. angeregter Abend. Ich bin ganz glücklich dass es so nett war u. alle sich so wohl fühlten! Frank, ich bin wirklich gar nicht so dumm u. ungeschickt, wie ich mir selbst | schon erschien. Du glaubst gar nicht u. brauchst es ja auch nicht zu wissen, wie oft ich deprimiert war seit Du fort bist. Auch oder gerade wenn ich Menschen gesehen hatte. Ich dachte ich hätte für immer alle Freude an mir selbst verloren. Und das gehört wohl mit zu den schlimmsten Dingen auf der Welt. Der gestrige Abend war eine Wohltat für mich.

Ich empfing sie in Deinem Zimmer. Dann giengenSchreibversehen, statt: gingen. wir zum Thee in’s Speisezimmer, die Türen zu meinem Zimmer waren offen, überall hell. Der Tisch war sehr hübsch gedeckt. Die Tischordnung so:

Agnes Fr. B’s Mutter
Hr. Dr. Pariser [gezeichnetes Rechteck] ich
Fr. B. Wedell Erna |

Allen schien es richtig u. sie fühlten sich offenbar wohl. Es gab verschieden belegte BrödchenSchreibversehen, statt: Brötchen., kaltes Fleisch, gem. Salat, Käse, Obst, 2erlei Kuchen. Cigaretten. Hr. Dr. bot ich Wein an, aber er trank auch Thee. Zuerst war Erna etwas zurückhaltend zur Baronin, aber sehr bald wurde das Gespräch allgemein. Ich unterhielt mich erst mit Erna u. der Mutter von Fr. B. Hr. Dr. sprach mit Fr. Baronin. Und selbst Agnes taute dann auf u. unterhielt sich mit der Baronin über PretoriusDie Malerin und Zeichnerin Lida von Wedell unterhielt sich mit der angehenden Kunstzeichnerin, Kostümbildnerin und Buchillustratorin Agnes Therese Pariser über Emil Preetorius, der als moderner Grafiker zur Münchner Künstlergruppe Die Sechs gehörte und als Buchillustrator gerade an der Münchner Ausstellung „Krieg, Volk und Kunst“ beteiligt war: „Die Sorge für das Buchgewerbe und für die künstlerische Herstellung der Drucksachen übernahm Dr. Emil Preetorius“ [Ausstellung „Krieg, Volk und Kunst“ im Augustinerstock. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 69, Nr. 142, 18.3.1916, General-Anzeiger, S. 1]; er übernahm am 6.4.1916 eine Führung, als der König von Bayern die Ausstellung besuchte [vgl. Hof- und Personalnachrichten. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 69, Nr. 178, 7.4.1916, Vorabendblatt, S. 3]. Wedekind, der 1912 von Emil Preetorius porträtiert worden ist [vgl. Vinçon 2018, Bd. 2, S. 301] und im Tagebuch einige Treffen mit ihm notierte – so am 15.3.1911 zu dem nicht realisierten Projekt [vgl. KSA 5/I, S. 1057], eine Buchausgabe von „Mine Haha“ zu gestalten („Unterredung mit Prätorius, der Minehaha illustrieren will“), am 3.3.1914 im Hoftheater-Restaurant („mit [...] Pretorius im HTR“) und am 29.1.1916 im Künstlerhaus („Abends im Künstlerhaus mit [...] Dr. Prätorius“) – war seit Jahren mit ihm bekannt. Emil Preetorius war am 24.6.1914 auf dem Bankett zu Wedekinds 50. Geburtstag im Bayerischen Hof in München unter den Gästen. etz. Als ich später mit Agnes Martha’s Bilderwohl Fotografien von Tilly Wedekinds jüngerer Schwester Martha Newes. in meinem Zimmer anschaute, erzählte dann die Baronin ihre ganze Geschichte.

Mir half es freilich sehr, dass ich | immer sehr eifrig die Zeitungen u. die Zeitschrift für FrauenstimmrechtTilly Wedekind dürfte, vermutlich vermittelt über Gertrud Eysoldt, seit etwa zwei Jahren wohl die zuerst von Anita Augspurg herausgegebene Zeitschrift „Frauenstimmrecht“ gelesen haben [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 7.7.1914], die seit 1912 als „Monatshefte des deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht“ in München erschien (Fortsetzung unter den Titel „Die Staatsbürgerin“), oder aber – weniger wahrscheinlich – die seit 1907 in Berlin erscheinende „Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht“ (Untertitel: „Organ für die politischen Interessen der Frau“). gelesen hatte. Ich fing auch gleich die Themen an, über die ich etwas sprechen konnte.

Wir trennten uns um ½ 12um 23.30 Uhr., sie wollten noch die letzte Trambahn erreichen.

Erna sagt sie weiß nicht was ich von ihr lernen will, sie wolle lieber von mir lernen. So ist es ja nicht, aber ich freute mich doch sehr darüber.

Das alles soll ja für mich Schule u. Übung sein, damit ich es lerne es auch Dir behaglich zu machen. Bei allem habe ich ja immer nur das Eine im Auge! |

Wir sprachen sehr viel von Dir, von Franziska u. ErdgeistTilly Wedekind spielte die Titelrolle in „Franziska“ zuletzt am 31.7.1914 im Rahmen des am 25.7.1914 begonnenen Wedekind-Zyklus an den Münchner Kammerspielen [vgl. KSA 7/II, S. 1155, 1241f.], der nach dieser Vorstellung wegen des Kriegsbeginns vorzeitig abgebrochen wurde, die Rolle der Lulu im „Erdgeist“ zuletzt im Rahmen des Wedekind-Zyklus an den Münchner Kammerspielen vom 12.2.1916 bis 11.3.1916; Premiere des „Erdgeist“ war am 26.2.1916, weitere vier Vorstellungen fanden am 27.2.1919 sowie am 1., 4. und 11.3.1916 statt.. Ich sagte Erna soweit giengeSchreibversehen, statt: ginge. ihre Freundschaft doch nicht, dass sie sich Lulu von mir angesehen hätte. Ich sagte es natürlich nur scherzhaft. Ich sprach auch ein Bischen von mir, aber wirklich nicht zu viel.

Ich sah übrigens gestern an der DrucksacheHinweis auf eine Sendung, die Wedekind als Drucksache ohne Begleitschreiben zugeschickt und ihm von seiner Frau am 20.4.1916 nach Berlin nachgesandt wurde. Es handelte sich um die 16 Seiten (ohne die Werbung für den Bund für Mutterschutz und für Werke der Autorin) umfassende Broschüre „Krieg und Ehe“ von Grete Meisel-Heß, die 1915 als erste Nummer der Reihe „Kriegshefte des Bundes für Mutterschutz“ im Verlag Oesterheld und Co. in Berlin erschienen ist (vielleicht hat die für den Bund für Mutterschutz aktive Helene Stöcker die Sendung veranlasst). Ihr Auftakt lautet: „Was erwarten wir Frauen von dem großen Weltgericht? In welcher Weise wird das furchtbare Geschehen, das die Erde von Blut dampfen macht, das Todesgrausen und die Vernichtungsschrecken, durch die wir uns an den jüngsten Tag versetzt wähnen, die Urbeziehung des Lebens, die der Geschlechter, beeinflussen? [...] Die automatischen Folgen des Krieges in der Beziehung der Geschlechter werden sich ja ohne Zweifel fühlbar machen.“ [Grete Meisel-Heß: Krieg und Ehe. Berlin 1915, S. 1], dass es eine Broschüre über Krieg u. Ehe ist. Ich hab’s gelesen u. sprach mit Erna davon. Du bist nicht böse, dass ich es las? Ich dachte eine Drucksache kann ich ansehen. Wenn Du sie noch nicht weggeworfen hast, bitte heb sie auf, ich würde sie gern Erna geben. |

Ich glaube fast, wir bekommen noch schönes Osterwetter. Fall’sSchreibversehen, statt: Falls. Du in Berlin oder Dresden oder Leipzig bist, wünsche ich Dir also recht vergnügte Ostern! Bitte schreib mir wo Du wohnen wirst!

Bertl telegraphiert mir ebenDas Telegramm von Dagobert Newes an seine Schwester ist nicht überliefert., dass er morgen kommt, ich freu mich sehr ihn zu sehen.

Hoffentlich freust Du Dich auch dass ich einen Schritt vorwärts gemacht habe u. giebt/s/t die Hoffnung nicht auf. Die TirolerDie aus Graz (Steiermark) stammende Tilly Wedekind sah sich offenbar als Tirolerin; sie war 1916 gerade 30 Jahre alt geworden. werden glaub ich erst mit 40 Jahren gescheidtSchreibversehen, statt: gescheit..

Sei innigst umarmt Liebster u. lass’ es Dir recht gut gehen!

Es küsst Dich herzlichst,
Deine Tilly |


den 21. April. 1916.


Lieber Papa!

Wie geht es dir? Uns geht es gut?/./ Ich habe sehr gute Noten, jetzt sind Ferien. Am Montag hatte ich eine EinladungPamela Wedekind empfing am 17.4.1916 „einige Freundinnen“ [Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 15.4.1916 (Brief)], die hier mit ihren Vornamen aufgezählten vier Mädchen (nicht identifiziert).. Niniza, Ellen, Lissi u. Hella kamen zu mir. Wir stellten lebende Bildertableaux vivants (frz.) – posierend nachgestellte Werke der Malerei und Plastik. dar. Viele Grüße u. Küsse von,
Kadidja u. Pamela!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift. Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Seite 1 ist mit einer Zeichnung versehen, ein Rechteck (es steht für einen Tisch), um das herum die Namen der Gäste geschrieben sind. Seite 4 (Beginn des zweiten Doppelblatts) ist mit der römischen Ziffer „II.)“ versehen. Die neunjährige Pamela Wedekind hat ihren Briefteil – mitunterzeichnet für ihre Schwester Kadidja – auf Seite 7 (auf dem ersten Doppelblatt, aber als Beilage zuletzt gezählt) in Kurrentschrift geschrieben; die Datumszeile und die Anrede sind am linken Rand mit Bleistift angestrichen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    21. April 1916 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefwechsel 1905‒1918. Band 1: Briefe

Autor:
Frank Wedekind, Tilly Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2018
Seitenangabe:
387-389
Briefnummer:
584
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 221
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Tilly Wedekind, Pamela Wedekind an Frank Wedekind, 21.4.1916. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (12.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

24.01.2023 16:18