29Schreibversehen, statt: 28..9.16. Innigst geliebte Tilly! Gestern Abend bekam ich
erst Deine liebe Kartevgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 24.9.1916. mit dem Schlosse Seefeld
und die andern vom Hubertustempel„Weshalb Wedekind von Karten vom Hubertustempel spricht, lässt sich nicht nachvollziehen, denn der Hubertusbrunnen, auch Hubertus-Tempel genannt, [...] war in München [...] 1906 in der Prinzregentenstraße errichtet worden. Dass in der Korrespondenz eine Bildpostkarte mit dem Abbild des Hubertustempels fehlt, ist auszuschließen.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 322]. Gestern AbendWedekind notierte am 27.9.1916: „Mit Dr. Heine [...] in Willys Weinrestaurant“ [Tb]; er saß bis 24 Uhr mit dem Dramaturgen Dr. phil. Carl Heine (Pariser Straße 38, Hinterhaus, 3. Stock) [Berliner Adressbuch 1917, Teil I, S. 1024] und dessen Gattin Beate Heine, Wedekinds langjährige Brieffreundin, in „‚Willys‘ Restaurant und Weingroßhandlung“ [Berliner Adreßbuch 1916, Teil IV, S. 444] (Kurfürstendamm 11), dem „Restaurant ‚Willys‘“ [Berliner Adreßbuch 1916, Teil III, S. 454]. Carl Heine war stark beansprucht mit der Regie zu einer Gesellschaftskomödie, die am 30.9.1916 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Premiere hatte, die „Erstaufführung des amerikanischen Lustspiels ‚Jonathans Töchter‘“, zu dem gemeldet war: „Regie führt Dr. Karl Heine.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 45, Nr. 493, 26.9.1916, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Er war dann fest am Deutschen Theater engagiert: „Schauspiel-Vorstände: [...] Dr. Carl Heine“ [Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1918, S. 292]. war ich mit
Heines zusammen. Er war so abgearbeitet daß wir schon um 12 Uhr aufbrechen
mußten, während hier sonst Polizeistunde um 1 Uhr ist. Heute VormittagWedekind notierte am 28.9.1916 seinen Besuch bei Maximilian Harden im Grunewald (Wernerstraße 16) bis 16 Uhr: „Harden telephoniert mich an, ich fahre hinaus, esse bei ihm allein, fahre um 4 Uhr zurück. Es soll eine Zeitung gegründet werden unter Harden mit Vollmöller Herzog Heinrich Mann und mir.“ [Tb] Heinrich Mann hatte sich gegenüber Hardens „Absicht, eine Tageszeitung zu gründen“, schon am 25.7.1916 „erfreut“ [Martin 1996, S. 183] gezeigt. Der Plan einer gemeinsam von Maximilian Harden, Karl Gustav Vollmoeller, Wilhelm Herzog und Frank Wedekind herausgegebenen Zeitung zerschlug sich – wohl wegen des Streits mit Harden am Abend des 29.9.1916 in der Deutschen Gesellschaft 1914 [vgl. Martin 1996, S. 183f.], über den Wedekind „Hardenskandal“ [Tb] notierte. fuhr ich
zu Harden, blieb über Mittag bei ihm und komme eben
mit ihm zurück. Heute hält der Kanzler eine RedeDie Presse berichtete über die in der Reichstagsitzung am 28.9.1916 um 15 Uhr im Reichstag anstehende Rede des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg: „Heute nachmittag um 3 Uhr [...] tritt der Reichstag nach längerer Pause wieder zusammen. [...] Halboffiziös verlautet, der Reichskanzler werde in der heutigen Sitzung über die politische, wirtschaftliche und militärische Lage Mitteilungen machen; seine Rede werde sich im Rahmen seiner letzten Reichstagsrede halten, die Friedensfrage werde er hierbei nur streifen [...]. Was hiervon zutrifft, können wir nicht wissen. Im Interesse Deutschlands und der Menschheit liegt es, daß rücksichtslos und entschieden jener Fronde entgegen getreten wird, die in allen Ländern klein an Zahl, aber groß an Macht, Tag für Tag für Maßnahmen Propaganda macht, deren Verwirklichung eine Verlängerung und Verschärfung des Krieges bedeuten.“ [Vorwärts, Jg. 33, Nr. 267, 28.9.1916, 1. Beilage, S. (1)] Die Rede begann um 15.30 Uhr: „Beginn der Rede des Reichskanzlers. [...] Genau um 3 ½ Uhr nimmt der Reichskanzler das Wort. Er spricht zunächst von der Kriegserklärung Italiens. Italien habe, indem es so lange gezögert, die wirtschaftlichen Folgen gefürchtet, die ein solcher Schritt auch nach dem Kriege haben müßte. Unter dem Zwange Englands habe es sich dann zur Kriegserklärung entschlossen. [...] Gleichzeitig habe sich Rumänien unseren Gegnern angeschlossen. [...] Rumänien werde sich militärisch ebenso verrechnen, wie es sich politisch bereits verrechnet habe, denn es glaubte an den Abfall der Türkei und Bulgariens von den Zentralmächten. Der Reichskanzler spricht dann von der großen Offensive an der Somme, wo die großen Hoffnungen der Entente trotz einzelner Erfolge gescheitert seien und der Durchbruch im großen Stile mißglückt sei.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 45, Nr. 498, 28.9.1916, Abend-Ausgabe, S. (1)] Referiert wurde nur der Beginn der Rede, über die ganze Rede konnte erst am nächsten Tag berichtet werden: „Eine Rede, die nichts Klares, Entscheidendes bringt, sondern alles im Nebel, im Unklaren läßt.“ [Vorwärts, Jg. 33, Nr. 268, 29.9.1916, S. (2)] „Mit ungewöhnlicher Spannung sah diesmal die Oeffentlichkeit den politischen Erklärungen des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg entgegen. Es war so viel getuschelt und gehetzt worden, die ganze politische Atmosphäre war so stark geladen, daß mancher ein offenes Wort wie eine Erlösung erwartete. [...] Daß Herr v. Bethmann die Fragen beantwortet hätte, die im deutschen Volke sich regen, wird man nicht behaupten können. In seiner gestrigen Rede war bisweilen eine fast akademische Zurückhaltung zu erkennen. Sorgsam war Herr v. Bethmann Hollweg [...] bemüht, seine Ausführungen zu dämpfen, Maß zu halten und mehr zwischen den Worten erraten zu lassen, als offen auszusprechen. [...] Beim nachträglichen Lesen gewinnt die Rede. [...] Wieder [...] betonte er, daß der Krieg nichts anderes sei als Verteidigung unseres Rechts auf Leben, Freiheit und Entwickelung. Er erklärte, daß wir als die ersten und einzigen unsere Friedensbereitschaft geäußert hätten, während unsere Gegner die Schuld daran trügen, daß sich die Berge der Toten täglich türmen. Herr v. Bethmann Hollweg lehnte es angesichts der letzten Rede des französischen Ministerpräsidenten Briand ab, neue Friedensangebote zu machen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 45, Nr. 499, 29.9.1916, Morgen-Ausgabe, S. (1)] im Reichstag, die aber schon
seit sechs Tagen feststeht. Jetzt gehe | ich zu Fuß in den Clubin die Deutsche Gesellschaft 1914 (Wilhelmstraße 67), wo Zeitungen zur Lektüre auslagen. um sie dort zu
lesen. Dabei lerne ich den 4. Akt EulenspiegelWedekind lernte die Rolle des Georg Sterner in „Till Eulenspiegel. Komödie in vier Aufzügen“ (1916), die am 1.12.1916 in den Münchner Kammerspielen unter seiner Regie uraufgeführt werden sollte; im 4. Akt [vgl. KSA 8, S. 141-152] wird die vom Verleger nicht mitgetragene Kriegsbegeisterung der Mitarbeiter des fiktiven Satireblatts „Till Eulenspiegel“ (Vorbild war der „Simplicissimus“) als Opportunismus dem Zeitgeist gegenüber persifliert.. Das Kölner Stadttheater will ihn spielen„Till Eulenspiegel“ (1916) wurde an den Vereinigten Stadttheatern in Köln (Direktion: Fritz Rémond) [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1917, S. 351] nicht gespielt.. Es wäre also gut wenn Du dich auch
mit der Rolle beschäftigtestder Wanda Washington in „Till Eulenspiegel“ (1916).. Innigste Grüße und Küsse an Dich und die Kinder
Dein
Frank
Postkarte
Frau
Tilly Wedekind
p.a. H. Uhrmacher Günther
Herrsching am Ammersee
Bayern