Kennung: 4090

München, 16. März 1917 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Tilly

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

T. W.


München, 16.III.17


Geliebter, dank’ Dir innigst Lieber für Deinen Briefvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 14.3.1917., den ich mit Sehnsucht erwartete. Gottlob scheint es Dir ja gut zu gehen. Ich las hier auch die Kritikenzu Wedekinds Gastspielpremiere als Dr. Schön am 9.3.1917 in der „Erdgeist“-Inszenierung am Theater in der Königgrätzer Straße. So schrieb das „Berliner Tageblatt“ (Verfasser: h.f.): „Im Theater in der Königgrätzer Straße spielte gestern abend Frank Wedekind in der zweiundsiebzigsten Aufführung seines ‚Erdgeist‘ als Gast die Rolle des Dr. Schön. Die besonderen Vorzüge seiner Darstellungskunst sind ebenso bekannt wie ihre natürliche Begrenztheit [...]. Wenn der Dichter vor dem bunten Zirkusvorhang im kitschig roten Frack des Tierbändigers mit knallender Peitsche und nervenaufkitzelndem Revolverschuß, seine liebreizende Bestie ankündigt und vorführt, dann enthüllt er freilich die grotesk-dämonische Seele der Tragödie tiefer als jeder Routinierte. [...] Das Publikum folgte mit stärkster Anteilnahme.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 46, Nr. 128, 11.3.1917, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Oder die „Berliner Volks-Zeitung“ (Verfasser: ‒e.): „Frank Wedekind spielte im Theater in der Königgrätzer Straße am Sonnabend in seiner Tragödie ‚Erdgeist‘ persönlich den Doktor Schön. Als Zirkusdirektor pries er mit schnarrender Stimme im Prolog seine Raubtiersammlung an [...]. In seine Rolle legte er die subjektive Auffassung des Dichters, aber er zeigte damit auch, was für das Gelingen einer Aufführung Schauspielkunst und technische Fertigkeiten bedeuten. Beides fehlt dem Darsteller Wedekind. Er blieb zu eckig und unentwickelt, seine Kapitulation vor dem Dämon Weib im dritten Akt erfolgte unvermittelt, und nur im Verfolgungswahn erhob er sich zu schauspielerischer Größe. Wenn es doch ein Triumphabend für den Dichter wurde, so hatte das Verdienst daran die reife Schauspielkunst Maria Orskas [...]. Der Dichter erkannte das auch an, indem er ihr zum Schluß verdientermaßen huldigte.“ [Berliner Volks-Zeitung, Jg. 65, Nr. 129, 12.3.1917, Montags-Ausgabe, S. (2)], in Graz waren die betreffenden Zeitungen noch nicht da. Es ist ja sehr schön verlaufen, hoffentlich zu Deiner Zufriedenheit. Wie langeWedekind blieb bis zum 8.4.1917 in Berlin [vgl. Tb]. meinst Du denn, dass Du in Berlin bleibst? Das wäre fein, wenn „Tod u. Teufel“ gespielt würde! Heute telegraphiere ich der Orska zu ihrem Geburtstagder 24. Geburtstag von Maria Orska, erfolgreiche Darstellerin der Lulu in der Berliner „Erdgeist“-Inszenierung (siehe oben), am 16.3.1917.. Wenn Du Dich nur gut nähren kannst; ich ließ Dir die Butter senden u. sende demnächst wieder. |

Nüsse giebtSchreibversehen, statt: gibt (so noch öfter in diesem Brief). es leider keine mehr. Giebts in Berlin noch welche? Dann kauf Dir, ja? Und iss recht viel Schokolade.

In Oesterreich giebt es noch so viel! Ich hab geschwelgt. Wir müssten doch im Sommer hinnach Graz. zur Erholung u. Abwechslung. Mit meinem Vater war es erst sehr schlecht, der Arzt glaubte nicht, dass er’s übersteht. Und auch jetzt wird es natürlich noch lang dauern. Graz ist reizend, ich giengSchreibversehen, statt: ging. mit Genuss durch die Straßen u. fühlte mich sehr wohl dort. Wenn Du zurück bist, muss ich Dir alles erzählen. Meine Geschwister lassen Dich alle herzlichst grüßen. Sie schätzen u. lieben Dich so, wie | kannst Du denken von ihnen missverstanden zu werden! Das war das Einzige, was mir meine Reise etwas verbitterte, dass ich gar keine Nachricht von Dir bekam. Dienstagam 13.3.1917. Tilly Wedekind reiste mit ihrem Bruder Rudolf Newes von Graz nach Wien, wo sie ihren Onkel Dagobert Engländer und dessen Frau Mathilde Engländer (geb. Lillin) sah. Früh fuhr ich mit Rudolf nach Wien u. blieb einen Tag dort, sah auch Onkel Dagobert u. Tante Mathilde. Nachts fuhr ich doch nach Prag. Ich dachte mir, wer weiß wann ich wieder nach Oesterreich komme. Wenn ich gewusst hätte, Du hast nichts dagegen, wie gern wäre ich paar Tage geblieben. So entschloss ich mich erst im letzten Moment, u. blieb nur über Mittwochder 14.3.1917. Tilly Wedekind besuchte in Prag ihre Schwester Martha Newes.. Nachts u. gestern den ganzen Tag war ich wieder im Zug, habe aber eine sehr angenehme Reise gehabt. |

Jetzt bin ich von der Strapaze natürlich bischen abgespannt. Aber es war sehr schön, ich danke Dir sehr, dass ich die Reise machen durfte.

Deinem Vetter u. der Orska danke ich für ihre GeschenkeWoldemar Wedekind schenkte Tilly Wedekind eine Schachtel Schokolade, Maria Orska einen Flakon französisches Parfüm, beides ihrem Mann übergeben [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 14.3.1917].. Grüße alle Bekannten von mir.

Willst Du denn Dein neues Stück in Berlin fertig diktierenWedekind hatte mit dem Diktat von „Herakles“ am 13.3.1917 in Berlin begonnen und beendete es am 22.3.1917 in Berlin [vgl. Tb].? Wie oftWedekind hatte bei seinem Gastspiel in „Erdgeist“ im Theater in der Königgrätzer Straße in Berlin vom 9.3.1917 bis 7.4.1917 (siehe oben) insgesamt 13 Auftritte. wirst Du noch spielen?

Du Geliebter, ich freu’ mich sehr wenn wir wieder zusammen sind u. wir uns alles erzählen können.

Sei innigst geküsst von Deiner Tilly

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 18 cm. Mit aufgeprägtem Monogramm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat oben auf Seite 1 mit rotem Buntstift das Datum „16.III 17“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    16. März 1917 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefwechsel 1905‒1918. Band 1: Briefe

Autor:
Frank Wedekind, Tilly Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2018
Seitenangabe:
439-440
Briefnummer:
675
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 221
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 16.3.1917. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (11.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

21.02.2023 18:21