Kennung: 4114

Berlin, 29. März 1917 (Donnerstag), Postkarte

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly

Inhalt

Geliebteste Tilly!

Gestern Abend erhielt ich Deinen lieben Briefvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 26.3.1917. für den ich herzlich danke und die Orskakartedie Bildpostkarte mit einen Foto von Maria Orska als Bildmotiv [vgl. Tilly Wedekind, Ida Rosenbusch, Lida von Wedell, Erna Morena an Frank Wedekind, 22.3.1917]., heute früh zwei Pakete mit Zwiebäcken, die ich sehr gut brauchen kann. Das Paket mit der Wurst ist noch nicht angekommen. Voraussichtlich werde ich also Ende nächster Woche kommen. Ob ich nach DresdenWedekind reiste nach seinem Gastspiel in Berlin nicht nach Dresden. fahre weiß ich noch nicht, das hängt vom Spielplan ab. Gestern AbendWedekind notierte am 28.3.1917 das Souper mit Will Vesper in der Weinstube C. Huth und Sohn (Potsdamer Straße 139), Inhaber: Willy Huth und Curt Steuer [vgl. Berliner Adreßbuch 1917, Teil IV, S. 440]: „Souper bei Hut mit Will Vesper Dr. Windelband und Dr. Crasso“ [Tb]. Will Vesper hatte sich 1915 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, kam aber nicht an die Front, sondern wurde „zum Dienst beim II. Bayerischen Landwehr-Infanterie-Regiment abkommandiert“, wo er seit 1917 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im „Stellvertretenden Großen Generalstab“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 347] in Berlin tätig war. war ich mit einigen Herrn vom Großen GeneralstabWedekind hat am 28.3.1917 zum Souper mit Will Vesper in der Weinstube C. Huth (siehe oben) „Dr. Windelband und Dr. Crasso“ [Tb] notiert; der eine der Herren vom Generalstab war der Heidelberger Privatdozent für Philosophie Dr. Wolfgang Windelband, der in der Kriegsgeschichtliche Abteilung beim Großen Generalstab im Kriegsministerium in Berlin [vgl. Berliner Adreßbuch 1917, Teil II, S. 99] eingesetzt war (nicht in leitender Funktion; er ist wie Will Vesper namentlich nicht verzeichnet), der andere Herr ist nicht identifiziert (auch nicht in varianter Namensschreibung wie etwa Grassow)., unter ihnen Will Vesper zusammen, die mir ein kleines Souper in den Weinstuben HutSchreibversehen, statt: Huth (gemeint ist die Weinstube C. Huth). gaben, der vergnügteste Abend, den ich bis jetzt in Berlin erlebt habe. Montag Abendam 26.3.1917 die Uraufführung von Carl Hauptmanns Stück „Tobias Buntschuh. Eine burleske Tragödie in fünf Akten“ (1916) unter der Regie von Carl Heine im Deutschen Theater (Direktion: Max Reinhardt) in Berlin, die um 19 Uhr begann [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 46, Nr. 154, 25.3.1917, Morgen-Ausgabe, 7. Beiblatt, S. (2)] – Wedekind notierte: „Tobias Bundschuh von Carl Hauptmann. Nachher im Club große Gesellschaft“ [Tb]. Wilhelm Herzog notierte am 26.3.1917: „Deutsches Theater: ‚Tobias Buntschuh‘ von Carl Hauptmann. Die ganze Mischpoke. Reinhardt-Rummel. [...] Später im Club. [...] Wedekind“ [Tb Herzog]; und am 27.3.1917: „Club. Wedekind. Carl Hauptmann über Aufnahme seines ‚Buntschuh‘.“ [Tb Herzog]. Das Stück fand eine zwiespältige Resonanz: „Der gestrige Abend brachte ihm bei seiner Gemeinde, die sich vollständig eingefunden hatte, einen sehr lauten, allzu betonten Erfolg. Der Dichter wurde viele Male gerufen, mit ihm aber auch Max Pallenberg, der Träger der Hauptrolle. Und es konnte wohl keinem Zweifel unterliegen, daß das Publikum gegenüber einer so suggestiven Leistung nicht klar imstande war, zwischen dem Verdienst eines genialen Schauspielers und dem des Schöpfers der Rolle zu unterscheiden. Wie skeptisch man aber auch diesen äußeren Eindruck bewerten mochte, mit aller Sicherheit konnte man feststellen, daß in dieser ‚burlesken Tragödie‘, die wiederum alle Schwächen des Dichters zeigt, seine Neigung zum Abirren von einer ursprünglich gut angelegten Charakteristik, sein Entgleiten in einen blutleeren Buchdialog, seine ganz harmlose Verwendung alter Kulisseneffekte, – daß trotz alledem und alledem hier ein vererbter Instinkt für das Wesen des Theaters am Werke ist.“ [Hans Flemming: Deutsches Theater. Zum erste Male: „Tobias Buntschuh“ von Carl Hauptmann. In: Berliner Tageblatt, Jg. 46, Nr. 157, 27.3.1917, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Die konservative Presse meinte: „Ein Verdienst bleibt eine Uraufführung immer, selbst wenn das Werk, dem sie gilt, sich so unzweideutig als Mißgeburt erweist, wie das diesmal der Fall ist. [...] Allein die jüngste Schöpfung Max Pallenbergs ist ein Gewinn, der einen fast mit dem Fiasko versöhnt. Er hatte in dem Titelhelden einen ‚Zwergriesen‘ darzustellen (der Autor dieses Ausdrucks, Frank Wedekind, wohnte übrigens der Premiere bei)“ [A.R. in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Jg. 56, Nr. 86, 28.3.1917, 1. Ausgabe, S. (3)]. war ich in der Premiere von Tobias Buntschuh und schrieb darüber eine kurze Erinnerung, die in der SonntagsnummerWedekinds Erinnerung „Luisa und Radiana“ [KSA 5/II, S. 560-562] (der Titel greift die Namen der dem Zirkusmilieu entstammenden Figuren Luisa und Radiana aus Carl Hauptmanns Stück „Tobias Buntschuh“ auf) in der Morgen-Ausgabe des „Berliner Tageblatt“ vom kommenden Sonntag [vgl. Frank Wedekind: Luisa und Radiana. In: Berliner Tageblatt, Jg. 70, Nr. 167, 1.4.1917, Morgen-Ausgabe, 4. Beiblatt, S. (1)] ist dort eigens angekündigt: „Im 4. Beiblatt dieser Nummer finden sich – statt in dem 2. Beiblatt, wie sonst am Sonntag – eine Anzahl von Aufsätzen. Wir veröffentlichen dort: [...] ‚Luisa und Radiana‘ von Frank Wedekind“ [Berliner Tageblatt, Jg. 70, Nr. 167, 1.4.1917, Morgen-Ausgabe, S. (3)]; sie beginnt mit den Sätzen: „Die Aufführung des Erfinder- und Zirkusdramas ‚Tobias Buntschuh‘ im Deutschen Theater ruft die Erinnerung an eine der schönsten Zeiten meines Lebens in mir wach. Im Jahre 1887 kam Karl Hauptmann, der Dichter des ‚Tobias Buntschuh‘, nach Zürich, um seine philosophischen Studien zu vollenden. Ich war damals als Chef des Reklamebureaus bei der Firma Julius Maggi angestellt, die eben damit begonnen hatte, die Welt für ihre Fleischextrakte und Suppenmehle zu erobern. Da kam der Zirkus Herzog nach Zürich, und seine Darbietungen erweckten in Hauptmann wie in mir die gleiche Begeisterung.“ [KSA 5/II, S. 560f.] Wedekind hat darüber am 27.3.1917 mit dem Feuilletonredakteur des „Berliner Tageblatt“ Paul Block gesprochen – „Besuche Paul Block auf dem B.T. Erzähle ihm von Ella und Victoria Belling“ [Tb] – und die Druckvorlage am 28.3.1917 diktiert: „Diktiere Luisa und Radiana Bringe Paul Block Luisa und Radiana“ [Tb]. des Berliner Tage|blattes erscheint.

Grüße und küsse die Kinder von mir.

Auf baldiges frohes Wiedersehen
Dein
Frank


Postkarte


Frau Tilly Wedekind
München
Prinzregentenstrasse 50 III

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 14 x 9 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Postkarte ist mit einer aufgedruckten Briefmarke von 7 ½ Pfennig frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Datum des Poststempels – 29.3.1917 – darf als Schreibdatum angenommen werden.

Uhrzeit im Poststempel Berlin: „2 – 3 N“ (= 14 bis 15 Uhr).

  • Schreibort

    Berlin
    29. März 1917 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Berlin
    29. März 1917 (Donnerstag)

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
346-347
Briefnummer:
471
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2018, Bd. 1, S. 455 (Nr. 693).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 320
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 29.3.1917. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (12.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

26.02.2023 15:53