Kennung: 4177

München, 22. November 1917 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Tilly

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

T. W.


Donnerstag, 22.11.17

München.


Geliebter Frank,

gestern kam Dein liebes Telegrammvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 21.11.1917 (Telegramm). u. Dein lieber Brief vom 16.vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 16.11.1917. Ich war sehr froh darüber, denn die Nachrichten aus ZürichPresseberichte über die politischen Unruhen vom 15. bis 17.11.1917 in Zürich, deren Höhepunkt am 17.11.1917 eine „gegen die Munitionsfabriken gerichteten Kundgebung“ war, bei der es „zu schweren Ausschreitungen“ kam, bei denen die „Polizei [...] schoß“ [Die Ursachen der Züricher Krawalle (Meldung der Schweizer Depeschen Agentur). In: Berliner Tageblatt, Jg. 46, Nr. 592, 19.11.1917, Abend-Ausgabe S. (2)], es zu Verhaftungen, Toten und Verletzten kam [vgl. Die Ausschreitungen in Zürich. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 70, Nr. 587, 20.11.1917, Morgen-Ausgabe, S. 1]; an den „durch Friedenspropagandisten und extreme Sozialisten veranlaßten Unruhen“ [Abermalige Tumulte in Zürich. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 70, Nr. 585, 19.11.1917, Morgen-Ausgabe, S. 4] hatten „anarchistisch und kommunistisch orientierte, aus Deutschland stammende Personen teilgenommen, die in die Schweiz geflüchtet waren, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen, oder die schon Jahre vor Beginn des Krieges [...] in der Schweiz lebten.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 363] Einem „Drahtbericht“ aus Zürich zufolge, der die Entdeckung von Bomben am 19.11.1917 vor „zwei Polizeiwachen in Zürich“ meldet, ging es bei den Unruhen auch um die kriegsbedingte „Verteuerung der Lebenshaltung“ [Die Unruhen in Zürich. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 70, Nr. 590, 21.11.1917, Abend-Ausgabe, S. 2]. waren sehr BesorgnissSchreibversehen, statt: Besorgnis. erregend. Hoffentlich ist jetzt wieder Ruhe.

Zu dem Erfolgder Erfolg der Uraufführung von „Schloß Wetterstein“ am 15.11.1917 im Pfauentheater in Zürich. von „Schloss Wetterstein“ gratuliere ich Dir herzlich. Vielleicht lag’s doch daran, dass es den Schauspielern noch zu neu war, dass es Dir lang erschien. Oder vielleicht lässt’s sich’s etwas kürzen? |

Ich las auch schon eine sehr schöne ZeitungsnotizeTilly Wedekind las in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ die „Kleine Chronik“ betitelte Notiz (gezeichnet: F.): „Wie unser Korrespondent aus Zürich drahtet, fand Frank Wedekinds Schauspiel Schloß Wetterstein, das stellenweise gedankentief, aber undramatisch wirkte, bei der Uraufführung geteilten Beifall. Wedekind spielte die Hauptrolle.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 70, Nr. 581, 16.11.1917, Abend-Ausgabe, S. 2] darüber. War Jenny drin?Tilly Wedekind hatte ihren Mann um eine Freikarte für ihre Cousine Eugenie von Sadkowski für die Inszenierung von „Schloß Wetterstein“ im Pfauentheater gebeten [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 16.11.1917]. Und Deine Verwandten?

Bis 6. December hast Du also zu tun. Kommt ausser Wetterstein nichts mehr? Keine WiederholungDer „Erdgeist“ mit Elisabeth Bergner als Lulu (im Sommer 1917 in Zürich von Tilly Wedekind dargestellt) wurde nach Frank Wedekinds Gastspielpremiere am 6.11.1917 im Stadttheater Zürich noch einmal am 29.11.1917 – „Erdgeistvorstellung im Pfauentheater“ [Tb] – gespielt, nun um 19.30 Uhr im Pfauentheater: „Im Pfauentheater ist für den Donnerstag eine Wiederholung in gewohnter Weise von Wedekinds ‚Erdgeist‘ angesetzt. Wedekind wird wieder den Dr. Schön spielen. Es ist dies für längere Zeit das letzte Gastspiel Wedekinds an unserer Bühne. Beginn 7½ Uhr.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 138, Nr. 2247, 29.11.1917, 1. Morgenblatt, S. (3)] von „Erdgeist“?

Vorgestern besorgte ich mit Pamela die Armband Uhr die sie sich zum Geburtstag wünscht. Ich fand eine sehr hübsche, billige. Schwarz Stahl an einem grauen Lederriemchen für 18 M. Für das Werkdas Uhrwerk. wird 1 Jahr garantiert. Alle rieten auf 30 M. als ich die Uhr zeigte. Sonst wünscht sie sich noch Handschuhe, Briefpapier u. ein Buch. Ich hab schon so ziemlich alles. |

Dann war ich bei Frau Albubei Jenny Albu (geb. Fischer), Gattin des Schriftstellers Eugen Albu (Kufsteinerplatz 2) [Adreßbuch für München 1917, Teil I, S. 6]. zu einem Damenthee, es war sehr nett. AbendsTilly Wedekind besuchte am 20.11.1917 um 19 Uhr die Vorstellung von Anton Tschechows Stück „Der Kirschgarten“ (1903) in den Münchner Kammerspielen: „Gastspiel Emmy Remolt vom Hoftheater in Stuttgart / Der Kirschgarten / Tragikomödie in vier Aufzügen von Anton Tschechow. Bühnenmusik von Hermann W. v. Waltershausen“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 70, Nr. 587, 20.11.1917, General-Anzeiger, S. 2]. Die Regie führte Paul Kalbeck. war ich in „Kirschgartenv. C/T/schechow in den Kammerspielen. Es hat mir sehr gefallen, wurde auch gut gespielt. Gestern war ich bei Frau Prof. Kutscherbei Betti Kutscher (geb. Pachtner), die zweite Ehefrau des außerordentlichen Professors Dr. phil. Artur Kutscher (Kaulbachstraße 77) [vgl. Adreßbuch für München 1918, Teil I, S. 400]., wo es Einiges abzuholen gab. Sie lassen Dich grüßen.

Nächstens Dienstag will ich einen größeren Damenthee geben. Frau Dr. Halbe u. Schwester, Frau Dir. Stollberg, Frau Prof. Dressler, Fr. Mann, Fr. Dr. Feuchtwanger, Fr. B. Wedell, Marthl u. ich. Hoffentlich kommen alle.

Abends 8 Uhr20 Uhr..

Mittags kam gerade Frau B. Wedell, als ich bis hierher geschrieben hatte. Sie holte Einiges bei mir ab, wir haben ja jetzt immer Tauschgeschäfte. Sie war recht | bedrückt die Arme, so bat ich sie zu Tisch zu bleiben. Dann blieb sie noch nach Tisch u. ich begleitete sie u. giengSchreibversehen, statt: ging. dann zu Marthlzu ihrer Schwester Martha Müller (geb. Newes) in München (Hiltensbergerstraße 32) [vgl. Adreßbuch für München 1918, Teil I, S. 496].. Alle lassen Dich grüßen. Eben las ich auch von „Schloss Wettersteinin den Neuestenin den „Münchner Neuesten Nachrichten“ den Bericht über die Uraufführung von „Schloß Wetterstein“ am 15.11.1917 im Pfauentheater sowie über Wedekinds „Herakles“-Lesung im Lesezirkel Hottingen am 5.11.1917 und seinen Vortragsabend am 17.11.1917 im Literarischen Klub in Zürich: „Seit etwa einem Jahr hält sich Frank Wedekind wieder in Zürich auf. In den letzten Monaten spielte der Gast sehr häufig im hiesigen Pfauentheater die Hauptrollen seiner eigenen Werke. Vor vierzehn Tagen las er in der Tonhalle mit bedeutendem Erfolg sein neues Drama ‚Herakles‘ und in dieser Woche, im literarischen Klub des Lesezirkels Hottingen, eine prachtvolle Schweizernovelle und sang, zur Laute, eine Anzahl der gelungenen tragikomischen Lieder aus seiner Münchner Ueberbrettlzeit. Und endlich gelangte Wedekinds schon lange im Druck vorliegendes Schauspiel Schloß Wetterstein im Pfauentheater zur Uraufführung. Man wird dem Dichter keinen Vorwurf daraus machen dürfen, aus Schloß Wetterstein kein formgerechtes Drama geschaffen zu haben. In dem Vorworte zu seinem Werke erklärt er selbst, daß er das gar nicht beabsichtige. Vielmehr wollte er nur seine Ansichten über die inneren Notwendigkeiten, auf denen Ehe und Familie beruhen, entwickeln. Im lebhaften Dialog, in Form von paradoxalen und aphoristischen Aussprüchen offenbart Wedekind seine Betrachtungen und deren Widerlegungen über das Weib, über Liebe, Ehe und Treue. Ueberall verspürt man den Ernst der Persönlichkeit; die Probleme werden nach ihrem vollen tragischen Gehalt behandelt. So interessierte in Schloß Wetterstein am meisten die Persönlichkeit des Dichters. Einzig der erste Akt weist eine abgeschlossene Handlung auf: eine reiche Witwe heiratet den Mörder ihres Gatten. Dieser erste Akt wurde durch stärkeren Beifall ausgezeichnet; nach dem loseren zweiten Akt war der Beifall schwächer; nach dem völlig phantastischen dritten Akt endlich wurden neben einigem Händeklatschen auch Pfiffe hörbar. Die Aufführung leitete der Dichter, der auch der Rolle des Freiherrn v. Wetterstein spielte.“ [B. Fn.: Uraufführung in Zürich. In: Münchner Neuesten Nachrichten, Jg. 70, Nr. 592, 22.11.1917, Abend-Ausgabe, S. 2]., u. von Deinem Vortrag. Schade, dass ich die Vorstellung nicht sehen kann.

Den Kindern gehts Gottlob sehr gut. Die Kleine spielt mir gern Vormittag was vor, wenn ich nicht mit der Köchinvermutlich Johanna Fuß [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 11.11.1917]. zum Einkaufen gehen/./ Dann haben wir zusammen eine Püppchen aus Wolle fabriziert. Pamela’s Tanz- u. Klavierstunden will ich auch in Angriff nehmen.

Nun lebwohl für heute. Sei innig umarmt u. geküsst u. lass’ es Dir recht gut gehen.

Deine Tilly

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 18 cm. Mit aufgeprägtem Monogramm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat oben auf Seite 1 mit rotem Buntstift das Datum „22.11.17“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    22. November 1917 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Zürich
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefwechsel 1905‒1918. Band 1: Briefe

Autor:
Frank Wedekind, Tilly Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2018
Seitenangabe:
476-477
Briefnummer:
725
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 221
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 22.11.1917. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (12.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

08.03.2023 18:58